Vor Jahren, als viele von uns noch am Land wohnten, und mit bestürzten Blicken in noch harmloseren Büchern über die Stadt lasen, schob Hans Veigl einen Prachtband dazwischen, der als Geschichte des Wiener Kabaretts eigentlich der genialere Stadtführer war. Veigl hielt zwar keine lückenlose Stadtgeographie parat, es fehlte jede Beschreibung von sehenswerten städtischen Äußerlichkeiten, der Band aber war ein Gruß aus dem Inneren von Wien. So eine Reise ins Innere der Stadt, die sich in schrecklich humoristischen Geschichten fortbewegt, liefert der 53-jährige Philosoph und Ethnologe jetzt mit Morbides Wien.

Die der Wiener Seele oftmals und vor allem von außen nachgesagte Todesnähe, ob gewollt oder nicht, tritt in jeweils den Bezirken zugeordneten Geschichten hervor. Veigl durchforstete Wiener Archive nach „morbiden“ Episoden vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert. Sie verorten Wien zwischen einer „Versuchsstation für den Weltuntergang“ (Karl Kraus) und „fidelem Grab an der Donau“ (Alfred Polgar). Aus Zeitungsberichten und Gerichtsakten erwachsen die schauerlichsten Alltagsgeschehnisse, die selbst in den Augen von Wien-Kundigen überraschende „Genealogien“ zutage fördern. Leider oder glücklicherweise: Nicht jeder Bezirk ist vertreten, bloß die „dunkelsten“: 1., 2., 3., 4., 6., 8., 9., 10., 11., 16., 19. und 20. Überrascht?

Leichenraub, Theaterbrand und Opernmord zählen zu den gewöhnlicheren Vorfällen. Tierhetztheater, Schergenstuben und Narrenkotter sind die Schauplätze. Was ebenfalls vorkam: Massenvergiftung durch einen Weihnachtstrudel (!). Schockiert? Geschickt hat Veigl die heutzutage weniger erschreckenden als in blankes Staunen versetzenden Fakten in passend humorvolle Textabrisse eingearbeitet. Zum Teil mit Hinweisen für mögliche eigene Spurensuchen. In kleinen Wiener Museum (im Kriminalmuseum oder im Narrenturm) findet sich heute noch so manch „leibhaftiges“ Dokument.

Einige Abbildungen – Stadtansichten, Porträts, Alltagsszenen oder stilisierte Verbrechensakte – illustrieren den gut lesbaren Band. Veigl kokettiert, soweit dies möglich ist, und vor allem in der unaufdringlichen Schreibweise nicht mit dem voyeuristischen Blick eines Katastrophenjägers. Wer also noch weiter als bisher in das schwarze Wien vordringen möchte, der möge bitte zu diesem Buch greifen. (Margarete Affenzeller)