Tokio - Für Dr. Katsura Nakakawaji beginnt der Arbeitstag um halb zehn mit einem Ritual. Jeden Tag sitzt ein 70-jähriger Patient im Wartezimmer, der den Tokioter Arzt um Bestrahlung und Massage für seine entzündeten Gelenke bittet. In Wirklichkeit, so glaubt der Mediziner, suche der Mann vor allem die Unterhaltung mit den anderen älteren Patienten. "Er begreift nicht, dass jemand für seine Besuche zahlen muss", sagt Nakakawaji. Dieser Jemand ist die Regierung - und ihr geht das Geld aus. Obwohl medizinisch nicht erforderlich, kostet die Behandlung den 70-jährigen Patienten praktisch nichts. Japans Krankenversicherungen garantieren den 126 Millionen Bürgern umfassende Versorgung. Nur selten verweigern sie die Bezahlung einer Behandlung, die ein Arzt verordnet hat. Kinder werden kostenlos behandelt, alte Menschen bezahlen nur einen geringen Beitrag. Doch das System, das so oft als leuchtendes Beispiel des japanischen Wirtschaftswunders gepriesen wurde, steht vor dem Kollaps. "Das Versicherungssystem wird zusammenbrechen, wenn die Regierung es nicht komplett überholt", sagt Hiroyuki Uchiyama, ein Vertreter des Gesundheits- und Arbeitsministeriums. Der Hauptgrund für die derzeitige Krise: Japans Bevölkerung wird immer älter. Das bedeutet sinkende Steuereinnahmen bei steigenden Kosten. Die Lebenserwartung lag 1999 bei 84 Jahren für Frauen und 77 Jahren für Männer - vor rund einem halben Jahrhundert war sie noch bei 54 beziehungsweise 52 Jahren. Jeder sechste Japaner ist 65 oder älter, in fünf Jahren wird es jeder vierte sein. Im vergangenen Jahr entfielen auf diese Altersgruppe ein Drittel der Ausgaben im Gesundheitswesen. In 25 Jahren, so die Prognose, steigt der Anteil auf 50 Prozent an. Der seit April amtierende Ministerpräsident Junichiro Koizumi hat versprochen, das Gesundheitssystem seines Landes drastisch zu verändern. Ein Reformvorschlag, der schon zwei Jahre überfällig ist, soll im Herbst vorliegen. Koizumis größte Herausforderung wird die Reform der staatlichen Krankenversicherung sein. Diese schreibt seit Jahren rote Zahlen - Ende 2001 wird ein Rekorddefizit von 600 Milliarden Yen (5,51 Mrd. Euro/75,8 Mrd. S) erwartet. Verglichen mit anderen Industrieländern sind die Behandlungskosten in Japan aber noch relativ gering. Zu verdanken ist dies unter anderem einer Preisliste der Regierung, die festlegt, was Ärzte für Operationen, Behandlungen und Medikamente in Rechnung stellen dürfen. Nach Angaben der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beliefen sich die Ausgaben im Gesundheitswesen 1995 auf 7,2 Prozent des Bruttosozialprodukts. Zum Vergleich: In den USA waren es 14,2 Prozent, in Deutschland 10,4 Prozent. Doch gerade weil die Behandlungskosten vergleichsweise gering sind, sehen viele Ärzte offenbar keinen Sparzwang, ganz im Gegenteil. Mit einem durchschnittlichen Krankenhausaufenthalt von 39,8 Tagen liegt Japan weltweit an der Spitze. Ob ausführliche Untersuchungen, Operationen oder Medikamente - oft ist die Behandlung aus medizinischer Sicht nicht erforderlich. Shigeaki Hinohara, Direktor des St. Luke's Hospital in Tokio nennt ein weiteres Beispiel unnötiger Ausgaben: Häufig würden Ärzte Blut abnehmen oder Spritzen geben, Dinge, die Schwestern genauso gut und vor allem billiger erledigen könnten. Krankenhäuser bezahlen den Pharmafirmen für Arzneimittel weniger, als sie den Patienten beziehungsweise Krankenkassen berechnen. Die Konsequenz: Viele Ärzte verschreiben Tabletten, wenn beispielsweise eine Diät oder etwas Gymnastik die gleiche Wirkung erzielen könnten. "Das ist die gängige Praxis", sagt Hinohara, der sich seit Jahrzehnten für eine Reform des Gesundheitswesens einsetzt. "Sie tun es, damit sie höhere Rechnungen stellen können." Die Gesetze müssten sich ändern, fordert er. "Aber auch die Einstellung muss sich ändern." Bisher hat die Regierung wenig zur Sanierung des maroden Systems beigetragen. Vor vier Jahren wurden die Zuzahlungen von zehn auf 20 Prozent erhöht, und ältere Patienten, die bis dahin kostenlos behandelt wurden, müssen seitdem eine geringe Gebühr für Arztbesuche zahlen. Doch das reicht bei weitem nicht aus. Zu den Vorschlägen für eine Gesundheitsreform gehört die Einführung von Preiskontrollen für Medikamente, um die Gewinne zu begrenzen, die Krankenhäuser aus deren Verschreibung ziehen. Außerdem sollen Ärzte zum Austausch von Patientenakten gezwungen werden, damit doppelte Tests und Untersuchungen vermieden werden. Von einem Konsens zu diesem Thema ist Japan aber noch weit entfernt. Alle Beteiligten - Regierung, private Versicherungsträger und Pharmakonzerne - haben eigene Pläne, um ihre spezifischen Interessen zu schützen. Die größte Hürde aber dürften die Ärzte darstellen. Viele sind mit dem bisherigen System reich geworden, sagt Nakakawaji. Doch die Kräfte des Marktes und der öffentliche Druck setzen sich seiner Meinung nach am Ende durch. "Der Wandel kommt", sagt der Arzt. "Es ist unvermeidlich." (APA)