Es genügt nicht, "Die Presse" jeden Tag zu lesen. Wer sich über die Seelenregungen des Chefredakteurs auf dem Laufenden halten will, darf sich nicht mit der Morgenausgabe zufrieden geben, kann doch in der Abendausgabe der Zorn des Gerechten noch einem ganz anderen Ziel gegolten haben. Wie etwa letzten Samstag. Von Genua bis zum ÖGB wollen Minderheiten der Mehrheit ihre Meinung aufzwingen. Leitartikel Seite 2. So stand es in den Kommentarhinweisen auf Seite 1. Die Entrollung europäischer Schreckenspanoramen in der "Presse" verspricht immer ein angenehmes Gruseln, und der Name des Leitartiklers ist da ein zusätzlicher Anreiz. Wenn der Chef persönlich zur Feder greift, um den Lesern Weltverschwörungen zu enthüllen und das Wochenende zu versüßen, das macht neugierig.

Genua - geschenkt. Aber welche Minderheit will im ÖGB der Mehrheit ihre Meinung aufzwingen? Steht ein Putsch der AUF gegen Verzetnitsch bevor, ähnlich dem der Regierung gegen Sallmutter im Hauptverband? Süchtig nach Erleuchtung blättert man zum Leitartikel Seite 2, Titel: Bedrohte Demokratie. Doch welche Enttäuschung! Kein Wort vom ÖGB, nur von Genua war die Rede - und vom ORF.

Wurden da zwei leicht angeknackste Institute einfach verwechselt? Nein, bei der "Presse" nicht möglich. Des Rätsels Lösung fand sich in der ersten, der Abendausgabe der Samstag-"Presse": Auch da ein Leitartikel von Andreas Unterberger, aber ein ganz anderer. Titel: Erpressung oder Demokratie. Und auf den passte der Hinweis von Seite 1: Genua kam darin auch vor, aber nur als Anlass, um den ÖGB als kriminelle Organisation ins rechte Licht zu rücken.

Zwei Leitartikel an einem Tag - Andreas Unterberger geht seiner Redaktion mit gutem Beispiel voran, denn: Ohne Fleiß kein Preis. Schließlich darf sich unsere hochlöbliche Obrigkeit für die 35 Millionen Schilling, mit denen sie der "Presse" - und nur ihr - kürzlich unter die Arme zu greifen beschloss, schon Gefolgschaft in ihrem Kampf gegen die Gewerkschaften erwarten. Hier zu kneifen wäre schnöder Undank, weshalb Unterberger auch nicht zögerte, die wirre kommunistische, grüne, fremdenfeindliche Mischung, die in Genua die Großen der Welt ein wenig aufmischte, seinen Lesern ins Schwarz-Blaue zu übersetzen.

Die angstschlotternde Reaktion etwa des EU-Präsidenten zeigt, daß Lautstärke und Aggression durchaus Wirkung erzielen . . . Sehr ähnlich die Causa ÖGB - nicht nur wegen der ebenfalls ängstlichen Reaktion der Wirtschaftskammer. Auch hier nimmt eine nicht legitimierte Minderheit das Wort Demokratie in den Mund, um der Allgemeinheit immer mehr Steuergelder für die von Gewerkschaftern schlecht geführten Krankenkassen abzuzwingen. Das Wort Erpressung ist viel passender als das Wort Demokratie. Durch nichts außer Arbeiterkammerwahlen legitimierte Gewerkschafter erpressen Steuerzahler, um sich ihr Privatvergnügen Krankenkassa leisten zu können. Und diese Brutalität! Eines der beliebtesten Instrumente, um sich ungerechtfertigte Privilegien zu verschaffen, sind Demonstrationen und Streiks.

35 Millionen sind als Honorar für die Verbreitung dieser Ständestaat-Ideologie viel zu wenig. Ein Nachschlag wäre der "Presse" dafür auch zugestanden, hätte Unterbergers Eifer, eine Pflichtübung durch eine andere zu übertreffen, nicht zur Auswechslung dieses wackeren Beitrags geführt.

Schuld war der ORF. Denn noch viel bedrohlicher für die Demokratie als ÖGB-Erpresser und Genueser Straßendemonstranten schienen Unterberger nach Betrachtung der "Zeit im Bild" plötzlich rabiat anarchistische ORF-Redakteure. Es sind auch viele geistige Sympathisanten unterwegs, die Öl ins Feuer schütten, aber welch ein Segen für die Nation: Der Biedermann wacht auch vor der Glotze, auf dass kein falscher Satz ungerochen bleibe.

Viele Österreicher konnten etwa am Freitag in der Zeit im Bild den unglaublichen Kommentar einer ORF-Mitarbeiterin hören. Da wurde kein einziger kritischer Ton für die brandschatzend durch Genua ziehenden Demonstranten gefunden. Da wurde nur gegen die Konferenz gehetzt, die die "fundamentalen Bedürfnisse" der Menschen, die "Gefühle" der jungen Menschen verletze. Da wurden die Anliegen der Demonstranten geradezu zum Evangelium erhoben.

Dieses apokryphe Evangelium sofort als Blendwerk des Teufels zu durchschauen, die gewerkschaftlichen Erpresser als lässliche Sünder noch einmal laufen zu lassen und sich an die Abfassung eines neuen, die Demokratiefeindlichkeit des ORF enthüllenden Leitartikels zu machen, war eins. Und also sprach der von allen guten Geistern besessene Fernsehkritiker: Daß die Redaktionen des ORF-Fernsehens derzeit von allen guten Geistern verlassen sind, ist aber bekannt, weil es der Peter Westenthaler auch immer sagt.

D ass Unterberger für den in Kärnten verhinderten Jörg Haider einspringt, wenn es gilt, dafür zu sorgen, dass in den Redaktionsstuben nicht so viel gelogen wird, passt und ist besonders wirksam, weil es ein Chefredakteur tut. Da ist Treffsicherheit garantiert, selbst wo zwei Fliegen auf einen Schlag erledigt werden sollen. Denn mit seiner Attacke auf die Leiterin der Auslandsredaktion der "ZiB" hat er den ÖGB doch noch mit getroffen: Ist sie doch Betriebsrätin, und wie es sich für eine Evangelistin gehört, für die Fraktion christlicher Gewerkschafter. Aber so gut können sich die Erpresser gar nicht tarnen, dass ein leitartikelnder Exorzist ihnen nicht den Teufel austreibt. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.7.2001)