"Immer der Treckerspur nach", ruft Volker Barth- mann und lenkt den Hanomag ohne Rücksicht auf Verluste quer durch den Weizen, rauf auf den steilen Hügel. Auf der offenen Ladefläche des robusten Allrad-Jeeps werden die Passagiere in ihren Sitzen ordentlich durchgeschüttelt. Dafür gibt's dann oben einen der schönsten Ausblicke über die Insel Rügen: sanfte, von alten Baumalleen gesäumte Hügel, Felder voll Getreide und Mohnblumen, die zerklüftete Küste mit ihren Leuchttürmen und die weite Ostsee, die in der Nachmittagssonne glänzt. Nur die berühmten weißen Kreidefelsen sind von diesem Punkt aus nicht zu sehen - das Panorama ist trotzdem hinreißend. Als Draufgabe schenkt der Chauffeur fruchtig-süßen, orangegelben Sanddornlikör ein. "Verstehen Sie jetzt, warum ich mich in diese Insel verliebt habe?", fragt er. Vollkommen klar.

Volker Barthmann als Aussteiger zu bezeichnen ist nicht ganz unrichtig

Der 27-jährige Diplomkaufmann schmiss vor ein paar Jahren seinen Managementjob in Köln und entschied sich fürs Inselleben. In Sassnitz auf Rügen lebt er auf einem riesigen Areal, mit dem Nationalpark Jasmund gleich vor der Haustür, in einem lang gestreckten Backsteingebäude aus dem 15. Jahrhundert, das davor vom nahe gelegenen Kreidebruch als Werkshalle genutzt wurde. Das wilde Insulanerdasein müsste doch auf andere stressgeplagte Großstadtpflanzen recht entspannend wirken, dachte sich Barthmann - und ging wieder an die Arbeit.

Nach langwierigen Nutzungsverhandlungen eröffnete der dynamische Exaussteiger im Vorjahr den "Kunsthof Dargast", auf dem er sein Incentive- und Adventure-Konzept durchzieht. Hier können Abenteuer- und Spaßdefizite des Alltagslebens ausgeglichen werden: endlich das machen, was man schon immer machen wollte, aber sich nie die Zeit dazu nahm. Also üben sich Manager beiderlei Geschlechts im Kunstschweißen oder Fischeräuchern, fertigen Büroangestellte mit der Motorsäge Holzskulpturen oder bauen Flosse, suchen Hausfrauen und Bankdirektoren nach den Spuren der Wikinger oder brettern mit dem Hanomag durch die Gegend. Komplett wird das Abenteuer, wenn man im mit Meeresgöttern und Seeungeheuern besprayten Backsteinhaus nächtigt, auf riesigen Heuballen oder im Militärstockbett; Verwöhntere quartieren sich in den Hotels der Umgebung ein.

Landschaft alleine reicht nicht mehr

Der "Kunsthof Dargast" steht exemplarisch für eine Neuorientierung des Tourismus auf Deutschlands größter Insel, die im "neuen" Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, knapp an der Grenze zu Polen liegt. Zum einen kann Rügen natürlich noch immer mit seinen Naturschönheiten der wohltuenden, reinen Ostseeluft punkten.

Zeitgerecht für den derzeitigen Wellness-Boom haben die Rüganer auch die Segnungen der inseleigenen Heilkreide, die in den 20er- und 30er-Jahren als Kurmittel gebräuchlich war, neu entdeckt. Mit der besonders feinen, reinweißen Kreide werden die Gäste heute in neuen, schicken Wohlfühl-Oasen verwöhnt: Packungen und Bäder wirken entschlackend, pflegen die Haut und fördern die Durchblutung.

Tourismus hat auf Rügen eine lange Tradition

Schon zur Jahrhundertwende kamen Kur-und Badegäste, sie wohnten meist im Inselinneren und wurden durch die schattenspendenden Baumalleen zur Ostsee und zum gesunden Bade kutschiert. An der Küste entwickelte sich in den darauf folgenden Jahrzehnten eine ganze Reihe feiner Bäderorte wie Sellin oder Göhren mit den berühmten weißen Villen mit aufwendig verzierten Holzveranden und eleganten Seebrücken. Dieses architektonische Erbe, in DDR-Zeiten wohl hauptsächlich aus chronischem Geldmangel extrem vernachlässigt, wird seit einigen Jahren nach komplizierten Rückgabe- und Eigentumsabklärungen wieder auf Hochglanz gebracht.

Andere Relikte aus der Vergangenheit gehören noch zu den ungelösten Problemen von Rügen.

So folgt eine 4,5 Kilometer lange Anlage aus Stahlbeton namens Prora dem Küstenverlauf im Osten der Insel. "Hitlers Bettenburg" und "gebauten Größenwahn" nannte Der Spiegel den Bau, der neben dem Nürnberger Parteitagsgelände die größte architektonische Hinterlassenschaft der NS-Zeit ist. Das von der "Kraft durch Freude"-Organisation in Auftrag gegebene und vom KdF-Architekten Clemens Klotz geplante Vorzeigeprojekt sollte nach seiner Fertigstellung 20.000 Gäste beherbergen: offiziell zur Erholung, in Wirklichkeit für einen "Urlaub nach Trillerpfeife" und ideologische Indoktrinierung im Kollektiv. "Geurlaubt" wurde im KdF-Seebad Prora aber nie: 1936 begannen die Bauarbeiten, 1939, als Hitler in Polen einfiel, war erst der Rohbau fertig.

In der DDR-Zeit wurden Teile der Stahlbetonanlage als Kaserne von der Nationalen Volksarmee genützt, das komplette Areal war jahrzehntelang Sperrgebiet und aus Sicherheitsgründen auch nicht auf Landkarten eingezeichnet. Nach der Wende begann die Diskussion um Prora. Einfach einreißen kann man den denkmalgeschützen Megabau nicht, damit er nicht verfällt, muss er aber genützt werden. Derzeit logieren in der Anlage einzelne Mieter wie eine Disco, ein Kaffeehaus und ein sehr sehenswertes Museum zur Geschichte von Prora.

Die gigantische Anlage im Ganzen zu privatisieren ist bisher nicht gelungen. Eine westdeutsche Investorengruppe will nun ein ein kilometerlanges Teilstück in Eigentumswohnungen umwandeln und unter dem Titel "Euromar - Leben am Meer" vermarkten.

Das Projekt scheint aussichtsreich

Rügen war nicht nur in der DDR ein begehrtes Reiseziel, auch nach der Wende sind die Besucherzahlen nicht übermäßig zurückgegangen. Aber es sind andere Gäste, die jetzt nach Rügen kommen, anspruchsvoller, verwöhnter - und sie reisen mit dem Auto statt mit der Bahn an. Eifrig arbeitet man an der Qualitätsanhebung des Angebots und am Ausbau des Verkehrs- und Radwegenetzes; Letzteres eine nicht kleine Herausforderung für das knapp 1000 km² große Eiland, das in Wirklichkeit ein wild zerfranstes Gebilde von 22 Halb- und Nebeninseln ist. Die Neugestaltung des Rügener Damms, als einziger Zubringer für Auto und Zug und in der Hochsaison bisher ein verlässlicher Staugarant, soll in Kürze fertig sein.

Aber wahre Rügen-Kenner kommen sowieso gerne im Spätsommer oder Herbst. Der dauert hier lange und kann im Allgemeinen mit stabilem Wetter und angenehm milden Temperaturen sowie erfreulich niedrigen Preisen aufwarten. Und wem es am Strand zu kalt wird, der flüchtet sich in einen der kuscheligen Strandkörbe. Margit Wiener