Sport
Wie man es anstellt, ein 800-m-Rennen zu gewinnen
Helmut Stechemesser, Trainer von Stephanie Graf, erzählt
"Wenn sie nicht gleich weiterläuft, dann kriegt sie eine
auf den Deckel", hatte Helmut
Stechemesser versprochen.
"Wenn ich nicht gleich weiterlaufe, dann kriege ich eine
auf den Deckel", sagte Stephanie Graf nach ihrem entspannt gewonnenen Vorlauf
und lief weiter. Auf dass die
diversen Säuren, die sich zwei
Stadionrunden und rund zwei
Minuten lang in ihrer Muskulatur angesammelt hatten,
nicht dort verweilten, sondern
sich in den darauf folgenden
zwanzig Minuten auf dem
Trainingsplatz gleichmäßig
im Blutkreislauf verteilten.Variation über Ausdauer
"Kurzzeitausdauer im
Übergang zur Mittelzeitausdauer", wie der Sportmediziner Stechemesser, Grafs Trainer seit 1995, einleitend sagt,
klingt wirklich harmlos. Die
800 Meter sind eine furchtbare
Distanz, der gemeine Mensch
nennt das einen quälend langen Sprint. Das zu lösende
Problem ist die Energiebereit-
stellung. "Der Körper läuft von
Beginn an am Anschlag. Zwischen 400 und 600 Meter
übersäuert er." Und nun geht
es darum, mit hohem Säuregrad weiterzulaufen. "Es gibt
wenige, die da noch drauflegen können."
Physis kommt vor Psyche
Stephanie sei
150 Meter vor dem Ziel genauso an der Grenze wie die anderen. Was dann kommt, ist auf
den ersten Blick eine mentale
Angelegenheit. Stechemesser:
"Doch mental bin ich erst
dann gut, wenn ich auch physisch gut bin." Graf wird gestärkt von EM-Bronze, Hallen-
WM-Silber, Olympia-Silber,
drei Siegen bei den heurigen
Golden-League-Meetings und
dem zweiten Platz bei der
WM-Generalprobe beim GP in
London, der sich nachträglich
als Sieg entpuppte, da die
Schnellste, die Brasilianerin
Fabiane dos Santos, des Dopings überführt wurde.
Stechemesser trainierte
auch Theresia Kiesl, die in
Atlanta zu Olympia-Bronze
über 1500 Meter lief. "Stephanie ist puncto Grundschnelligkeit um Häuser schneller."
Für die 400 Meter aber niemals schnell genug. Prinzipiell denkbar wären 1500 Meter.
"Aber daran", sagt Stechemesser, "braucht man nicht zu
denken, solange über 800 Meter noch was vorwärts geht."
Länge und Kraft
Mechanische Parameter wie
Hebelverhältnisse und also
die Schrittlänge spielten keine
Rolle, so etwas habe man früher einmal analysiert. Es gehe
um das Zusammenspiel von
Schrittlänge und Kraft,
schließlich nütze der längste
Schritt nichts, wenn man ihn
nicht durchziehen kann. Stechemesser hat keine Ahnung,
wie viele Schritte Graf im 800-
Meter-Lauf tut, so 550 bis 600
dürften es sein. Es ist so wie
beim Radfahren. Kurze Übersetzung, schnelle Trittfrequenz, lange Übersetzung,
langsame Trittfrequenz. Ein
Läufer finde seine Schrittlänge im Alter von 14 bis 15 Jahren, später mache es keinen
Sinn, das umzustellen.
Am Sonntag um 23.45 Uhr
MESZ steigt das 800-m-Finale.
Stechemesser: "Für mich ist
Stephanie die Topfavoritin,
weil sie auf dem Weg nach
oben ist. Ich habe Respekt vor
Mutola, die seit zwölf Jahren
Weltspitze ist. Aber irgendwann reißt jede Serie."
(DER STANDARD, PRINTAUSGABE 11./12.8. 2001)