Es war - wie jedes Jahr - knapp, aber zu guter Letzt hat sich die geschätzte Kollegenschaft nun doch auf ein Sommerthema geeinigt: Ferienzeit ist Familienzeit, die beste Gelegenheit also, wieder einmal über die Erziehung unserer Kinder nachzudenken."Brauchen Kinder Grenzen?", fragt Die Woche auf der Titelseite und preist im Blattinneren als ihre Antwort eine "Erziehungspartnerschaft" an. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wettert "gegen Fremdbetreuung" und fordert "vital an ihren Kindern interessierte Eltern". Blumiger formuliert es das Wochenblatt Die Zeit: Sie wünscht den Kleinen - statt "Fernsehen, Freizeitparks und Fruchtzwerge" - wenigstens "ein Minimum an Idylle". Wirklich einig ist man sich nur in einem Punkt: Erziehung ist wichtig. Und dass selbst das nicht ganz unumstritten ist, ruft uns das Schweizer NZZ-Folio in Erinnerung, indem es sich auf jene amerikanische Psychologin beruft, die herausgefunden hat, dass elterliche Erziehung keine nachweisbaren Spuren bei den Kindern hinterlässt. Da sitzen wir nun also nach pflichtschuldiger Lektüre und sind durchaus ratlos. Kinder und Risotto Idyllische Partnerschaft mit Grenzen? Nie mehr Fruchtzwerge? Oder ist ohnehin alles für die Würscht? Anstrengender noch als Kindererziehung selbst ist der Versuch, sich aus der Theorie-Palette zum Thema Kindererziehung einen Reim zu machen. Folgerichtig macht auch der Weg in die Buchhandlungen die Sache nicht einfacher - Erziehungsratgeber sind so gefragt wie Kochbücher, und so finden sich unter dem Schlagwort "Kinder" viele Laufmeter Buch: "Kinder brauchen Sicherheit", "Kinder brauchen Grenzen", "Kinder brauchen emotionale Intelligenz", "Kinder brauchen Rituale". "Kinder brauchen Ordnung", "Kinder brauchen Erwachsene", "Kinder brauchen Tiere", "Kinder brauchen Gott". "Warum unsere Kinder Autorität brauchen". "Was Kinder wirklich brauchen". Dies immerhin erfahren wir: Während sich ein Risotto-Rezept vom anderen nur im Detail unterscheidet, preist die pädagogische Ratgeberliteratur einander völlig widersprechende Erziehungskonzepte. Der Trend geht dabei zur konservativen Pädagogik, Konjunktur haben ExpertInnen, die Strenge und Autorität einfordern. Sie rufen nach Disziplin und Tischmanieren - gerade so, als läge das Geheimnis geglückter Erziehung im Drill vergangener Epochen. Diesem Muster folgt auch jenes Buch, das die heurige Debatte ausgelöst hat: "Die Erziehungskatastrophe" von Susanne Gaschke ist ein Rundumschlag gegen alles, was auch nur leise nach sanfter Pädagogik klingt. "Kinder brauchen starke Eltern", lautet die Grundthese: Die Eltern machten es sich zu einfach, die antiautoritäre Ideologie der 68er-Jahre sei zur Laisser-faire-Attitüde verkommen, die Müttern und Vätern in ihrer Bequemlichkeit entgegenkomme. Das Ergebnis: "Die Jugend hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Menschen. Die Jugend widerspricht ihren Eltern und tyrannisiert ihre Lehrer." Das stammt zwar nicht von Gaschke, sondern von Sokrates, skizziert aber doch punktgenau, was "Die Erziehungskatastrophe" episch breit ausmalt: Vieles läuft falsch in der Pädagogik, es gibt triste Verhältnisse und viel zu viele schlechte Eltern. Die gute alte g'sunde Watschen Da spätestens zeigt sich, wohin die Erziehungsdebatte läuft - in die Vergangenheit. Über die Grenzen des Erträglichen hinaus wird uns vorgeleiert, dass die Kindheit früher schöner, bunter, lehrreicher, eben besser war. Gegen alle empirischen Erkenntnisse wird unterstellt, dass Kindern heute ein Übermaß an Toleranz entgegengebracht werde. Dass die solcherart pauschalverdächtigten Eltern vielleicht nicht mehr in der überwiegenden Mehrheit, aber doch in viel zu großem Ausmaß vom pädagogischen Wert der g'sunden Watschen überzeugt sind, stört die Autorin in ihrem Drang zum Trend nicht. Doch auch Erfreuliches ist zu vermerken: Keine Elterngeneration vor dieser hat sich stärker darum bemüht, ihre Kinder zu verstehen, keine hat ihnen mehr Respekt entgegengebracht, keine hat ihre Bedürfnisse ernster genommen. Eltern machen Fehler, das gehört zum Programm. Mitunter wird der Nachwuchs vor dem Fernseher platziert, auf dass Mutter oder Vater sich erholen, wie Gaschke schmallippig moniert. Platte Ratschläge verunsichern Eltern Doch was wäre daran so verwerflich? Niemand wird abstreiten, dass Pokémon und Teletubbies ein Fortschritt sind gegenüber Schnaps- oder Mohnschnuller, mit denen der Nachwuchs in der angeblich so guten alten Zeit ruhig gestellt wurde. Gut, dass das Ende der Sommerdebatte abzusehen ist. Gelernt haben wir immerhin, was Kinder auf keinen Fall brauchen: Eltern nämlich, die durch platte Erziehungstheorien verunsichert werden. Dass ein Leben zwischen Kindern und Arbeit zwar Zeit für den Kauf, aber kaum noch für den Konsum solch populärpädagogischer Schmonzetten lässt, ist aber das eigentliche Glück: Indem die Ratgeber ungelesen am Nachttisch verstauben, ist Kindern wie Eltern geholfen. Irene Jancsy