Salzburg - Die Wellen des Musikmarktes bürgen für ein irritierendes Spiel von geringer prognostischer Qualität. Den einen Künstler spülen sie als einen Spielenden prompt ans rettende Festland des Erfolgs, dem anderen spielen sie übel mit und spülen ihn für Jahre ins weite Meer der Ruhe. Dabei mag man gar nicht recht entscheiden, ob dieses Meer der Verbanntheit nicht auch ein Urquell der Kraft ist, aus dem ein Instrumentalist nach Jahren mit um so stärkeren Argumenten auftaucht. Man ist versucht, solche Spekulationen anzustellen, wenn in Salzburg innerhalb weniger Tage zwei so grundverschiedene Klaviernaturen wie Grigory Sokolov und Maurizio Pollini gastieren. Sokolov gewann 1966 (mit 16) den Tschaikowsky-Bewerb, Pollini ein paar Jahre zuvor jenen im Namen Chopins. Der eine bewegt sich in letzter Zeit als Individualist, als reisender Eremit des Althergebrachten. Mitunter vernebelt Der andere protegiert das Neue und Unbequeme, indem er es seiner Gemeinde in Verbindung mit dem Traditionellen anbequemt - und dies auf einem pianistischen Niveau von tendenziell problematischer, weil angestrengter und mitunter vernebelter Effizienz. Angesprochen ist mit diesen Worten die an sich bewunderungswürdige Kunst Pollinis, der mit Fantasien von Brahms und zwei Beethoven-Sonaten das Schöne und das Unbotmäßige ansprach und mit Webern und Stockhausen in aller Vollherzigkeit an die jüngeren Entwicklungen des Klavierdenkens erinnerte. Sokolov nun als später Festspielgast - dieser todernste, schon wie in Trance dem Instrument zustrebende Mann wandte sich in aller Innigkeit und Versunkenheit der alten, zeitlosen Musik zu. Fast 50 Minuten waren es, die er den farbigen, intimen Explosivitäten des Charakterisierungsalchemisten Fran¸cois Couperin schenkte - ein Abenteuer in den Welten des Leisen, in den Labyrinthen spitzfindiger Verzierungen, denen Sokolov mit einer Beherrschtheit des Improvisatorischen Kontur und Fluidum sichert. Mozarts e-Moll-Fantasie in Verbindung mit der Sonate KV 457 folgten in einer denkwürdigen Synthese aus Erregung und Entladung, ungemütlich im Grundton, trotz zärtlichster Abstufungen in den motivischen Echowirkungen. Mit Francks Prélude, Chorale et fugue verriet Sokolov, dass auch für ihn Fremdsprachen existieren. Denn so halsbrecherisch sinfonisch, zuweilen peinigend lärmend, so überheizt habe ich diese Suite noch nie erlebt. Fast konnte man meinen, Mussorgskys Bilder in einer französischen Ausgabe mit fugiertem Tor von Kiew zu hören. Zugaben: vier Chopin-Mazurken in all ihrer schmerzlichen Unerforschlichkeit, dazwischen die Toccata aus Ravels Le tombeau de Couperin . Fast drei Stunden waren im Mozarteum vergangen, aber es waren jene, die für immer zählen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16. 8. 2001)