Als Savitribais Mann frühzeitig verstarb, waren sich die Bewohner ihres Dorfes einig: Der Tod war die Rache der Göttin. Denn Savitribai war eine Jogini, und als solche hätte sie nie heiraten und mit einem Ehemann und Kindern in einer normalen Familie leben dürfen. Schon die Hochzeit hatten einige Männer des Ortes mit Gewalt zu verhindern versucht. Wenige Tage vor der Feier überfielen sie sie und ihren Partner in deren Haus und verprügelten sie. Doch Savitribai hatte ihre Entscheidung getroffen und ließ sich von der Eheschließung so wenig abbringen, wie sie sich nun durch Aggression und Widerstand an ihrem Kampf gegen das Jogini-System hindern lässt, das sie selbst lange mitgetragen und auch verteidigt hatte. "Das ist unsere Religion. Warum wollt ihr uns unseren Glauben zerstören?" Wie ihre Widersacher heute, so hatte Savitribai noch vor wenigen Jahren reagiert, als Aktivistinnen erstmals zu ihr kamen und sie zur Abkehr von ihrem bisherigen Leben bewegen wollten. Im Dienste Yellammas zu stehen, was sollte daran verwerflich sein? Gerade sieben Jahre war sie alt gewesen, als ihre Familie beschloss, sie dieser Göttin zu weihen und zur Jogini zu machen. Zahllose andere Eltern in ihrem Dorf wie in tausenden weiteren indischen Orten übergeben bis heute ihre Töchter ebenfalls Yellamma. Es ist Teil ihrer Tradition. Nicht nur die Verwandten selbst erhoffen sich dadurch göttlichen Segen, wann immer in anderen Familien schwerwiegende Probleme auftauchen, kann der Mann des Hauses zur Jogini gehen.
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Anfänglich versuchte Savitribai, die Aktivistinnen von sich fern zu halten. Nur widerstrebend erklärte sie sich später bereit, ihnen einmal zuzuhören. Warum, fragten sie diese Frauen, sind es denn nur Mädchen wie sie, die Yellamma geweiht werden? Mädchen also, die aus Gemeinden von Dalits kommen, wie sich Indiens Unberührbare heute nennen? Warum haben Angehörige der oberen Kasten ein derart großes Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Systems? Und was war es denn für ein Leben, das sie da führte? Als Kind der Göttin übergeben, musste sie nach Erreichung ihrer Geschlechtsreife den Tempelpriestern und allen anderen Männern zur Verfügung stehen. Die Kinder, die sie infolge dieser Kontakte gebar, galten als Bastarde, denn die Namen der Väter darf eine Jogini nicht nennen. Als Savitribai den Schritt wagte, sich von ihrem Leben als Jogini abzuwenden, will sie keine Angst verspürt haben. Sie war sich dessen bewusst, dass sie ein Risiko einging. Doch was sie zuvor im Namen der Religion gerechtfertigt hatte, erschien ihr nun in einem neuen Licht. Und sie war entschlossen, diese institutionalisierte Demütigung von Dalitfrauen zu bekämpfen. "Was wollt Ihr in unserem Dorf? Lasst uns in Ruhe!" Abweisende Worte, wie sie selbst einst äußerte, und immer wieder auch physische Aggression sind heute Teil von Savitribais neuem Leben als Aktivistin im Rahmen eines großen Dalit-Netzwerkes im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh, das sich gegen die vielfältigen Formen der Diskriminierung gegen die Unberührbaren einsetzt.
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Das Netzwerk arbeitet eng mit der im Dezember 1998, zum 50. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, lancierten "Kampagne für die Menschenrechte der Dalits" zusammen, die nun mit ihren Anliegen auch vor die Vereinten Nationen gegangen ist. Die UNO, lautet ihre Forderung, soll bei ihrer derzeit im südafrikanischen Durban tagenden Anti-Rassismus-Konferenz auch die Diskriminierung der Dalits behandeln. Die indische Regierung ihrerseits hat im Vorfeld der Konferenz alles daran gesetzt, um zu verhindern, dass das Thema der Unberührbarkeit in Durban diskutiert wird. Neu Delhi verweist auf die progressive indische Gesetzgebung. So wurde in der 1950 promulgierten Verfassung die Unberührbarkeit offiziell abgeschafft. Zugleich wurden eine Reihe von Fördermaßnahmen festgelegt zur Kompensation für das historische Unrecht an dieser Bevölkerungsgruppe, die unter- und außerhalb des hinduistischen Kastensystems steht. Der demokratische Prozess habe es zudem ermöglicht, dass mit R. K. Narayanan heute ein Unberührbarer Staatspräsident sein könne, derselbe demokratische Prozess werde schrittweise auch zur Überwindung jeder kastenbedingten Diskriminierung führen. Außerdem, betont die Regierung, seien Rassismus und Kastendiskriminierung nicht gleichzusetzen, ein Argument, das von führenden Soziologen durchaus untermauert wird.
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Doch bei der Konferenz geht es laut ihrem vollen Titel "gegen Rassismus, rassistische Diskriminierung, Xenophobie und ähnliche Formen der Intoleranz", und unter letztere Kategorie fällt die Ausgrenzung der Unberührbaren in jedem Fall, sagen die Vertreter der Kampagne. Auf dem Papier mögen die Dalits - was so viel wie "gebrochene Menschen" bedeutet - alle Rechte genießen, eine kleine Minderheit hat tatsächlich von diversen Fördermaßnahmen profitiert, und über demokratische Wahlen sind Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe regional in Machtpositionen gelangt. Die allermeisten der 170 Millionen Dalits - 240 Millionen sind es, wenn man all jene hinzurechnet, die zum Buddhismus, Christentum oder Islam konvertiert sind, - leben jedoch weiterhin abgesondert in eigenen Vierteln am Rande der Dörfer oder in städtischen Slums und schneiden bei allen Sozialindikatoren am schlechtesten ab. Bis heute müssen sie alle als unrein geltenden Arbeiten verrichten, hunderttausende sind weiter dazu verurteilt, mit bloßen Händen Latrinen zu räumen. Setzen sie sich zur Wehr, versuchen sie, aus dem System auszubrechen, müssen sie mit Gewalt rechnen. Savitribai wurde verprügelt, weil sie sich von ihrem Leben als Jogini abwandte. Immer wieder wurde sie beschimpft und attackiert, seit sie die Sicht des Nationalen Verbandes von Dalitfrauen vertritt, der dieses in verschiedenen Landesteilen unter unterschiedlichen Namen laufende System der sexuellen Ausbeutung vorbehaltlos verurteilt, um so mehr, als es sich "in unverschleierte kommerzielle Prostitution verwandelt" habe. Andere Dalitfrauen wurden vergewaltigt und verstümmelt oder, wie auch viele Dalitmänner, getötet, weil sie ihre Rechte eingefordert hatten. Das Recht auf ein Stückchen Land, das Recht, einen Dorfbrunnen zu benutzen, von dem die oberen Kasten sie fern halten wollten, das Recht, die sexuellen Avancen eines Grundbesitzers abzuweisen.
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Seit die Dalits sich landesweit verstärkt organisieren, ist die Zahl der Gewalttaten gegen sie massiv angestiegen. In einigen Bundesstaaten haben Grundbesitzer private Milizen zu ihrer Unterdrückung organisiert. Es wäre ein Hohn, heißt es in der Kampagne für die Menschenrechte der Dalits, sollten diese "abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit" nicht bei der offiziellen Konferenz in Durban diskutiert werden. Beim parallelen Forum der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sind Vertreter der Kampagne in jedem Fall zugegen. Und unabhängig vom Ausgang der Konferenz wird das Ringen für die Emanzipation der Dalits weitergehen, die ein prominenter Aktivist als den heute "größten Kampf für menschliche Würde" bezeichnet. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 1./2. 9. 2001)