Debatte
Vom Wert des Weitermachens
IAA: Die Automobil-Ausstellung am Terror-Tag - Kommentar von Elisabeth Pechmann
Über ein Industriespektakel im Schockzustand und die grundsätzliche Entscheidung
zwischen Weitermachen und InnehaltenSo weiter zu machen wie gewohnt kann in
dieser Situation auch helfen, sagt der Auto-Manager im branchenkollegialen Talk bei
der Frankfurter IAA am 11. September 2001. Werde mich noch oft erinnern an diesen
Satz. Doch jetzt ist erst Vormittag, wir reden "nur" über einen familiären Todesfall.
Die neuen Autos glänzen, die Messe-Mädels lächeln, die Manager schlagen Räder,
die Presse wuselt, die Werbemusik dudelt - alles ganz normal. Kurz vor fünfzehn Uhr
kommen die ersten Informationen. Fragmente. Freunde am Handy verständigen
Firmenvertreter verständigen Journalisten verständigen Kollegen verständigen
Freunde.
Noch kein konsistentes Bild. Um wenige TV-Schirme am riesigen Messegelände
drängen sich viele, das Unerhörte wird unübersehbar, im Stakkato prasseln neue
Meldungen ein. Ein Flugzeug, zwei Flugzeuge, Turm brennt, Turm stürzt, New York,
Washington, Pentagon. Die Pressearbeit stockt, vor allem das Personal der großen
US-Autokonzerne klinkt sich völlig aus dem Betrieb aus.
Diffuse Angst
Die Stimmung changiert zwischen persönlicher Besorgnis um möglicherweise
Betroffene, düsterer Ahnung von weit reichenden Folgen und diffuser, kollektiver Angst.
Um die Welt. Ums Geschäft. Ums eigene Leben.
Kaum einer, der nicht daran denkt, was für ein ideales Anschlagsziel die IAA abgäbe -
stationiert im Finanzzentrum Frankfurt, voll von hochkarätigen Wirtschaftsbossen,
Schaufenster nicht nur für die Wirtschaftskraft Deutschlands, sondern auch für einen
der prominentesten Zweige internationaler Industrie -, falls der Terror Europa
ebenfalls im Visier hat.
Die meisten Messeteilnehmer/innen werden die nächsten Stunden vor Fernseher und
Internet brauchen, um die Ereignisse in ihrer vollen Dimension zu erfassen. Jeder
zuckt zusammen, als knapp vor sechs Uhr abends eine Feuerwehrsirene übers
Gelände heult.
Der Tag danach. "IAA absagen", stand im Raum. Interviews gecancelt, Konferenzen
gestrichen, Halle 3 gesperrt wegen einer Bombendrohung, Topmanager auf
Tauchstation. Reaktionen bekamen fieberhaft recherchierende
Nachrichtenreporter/innen lediglich von den PR-Teams. Die US-Konzerne Ford und
GM sowie die deutsch-amerikanische Daimler-Chrysler drückten Betroffenheit in
Solidaritätsadressen und Trauerminuten aus. Audi-Sprecher Rainer Nistl sorgte sich
um Logistikprobleme, steigende Spritpreise und andere Konjunkturdämpfer.
Porsche-Öffentlichkeitsarbeiter Anton Hunger sprach sich klar gegen einen
IAA-Abbruch aus, "weil man damit den Attentätern das Geschäft erleichtert".
Volkswagen wollte gar nichts sagen. (Europas PS-Großmacht kommunizierte
übrigens selbst vier Tage nach der Katastrophe nichts Dringlicheres auf ihrer
Media-Website als "TV-Star Günter Pfitzmann holt Golf ab".)
Richtige Entscheidung
Schließlich fällten die Autohersteller-Vereinigungen ACEA und VDA den Entschluss,
die Frankfurter IAA fortzusetzen. Allerdings unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen
sowie unter Verzicht auf alle Unterhaltungs-elemente. Musik & Mädels wurden
gestrichen.
Diese Entscheidung war nicht nur verständlich in einem Land, in dem jeder siebente
Arbeitsplatz direkt oder indirekt am Auto hängt und das Neufahrzeug-Geschäft ohnehin
bereits lahmt. Sie war auch richtig. Terror hat neben akuter Destruktion die latente
materielle und mentale Zerstörung zum Ziel. Eine Mischung aus Kontinuität und Pietät
ist die beste Verteidigung dagegen. Die Kontinuität erfordern
pragmatisch-ökonomische Gründe, quasi buchstäbliche
"Der-Betrieb-darf-nicht-zusammenbrechen"-Überlegungen in Hinblick auf Produktion,
Konsum, Arbeitsmarkt, Aktienkurs & Co. Kontinuität liefert aber auch das seelische
Backup für Menschen, die der Verlust ihrer emotionalen Verankerung paralysierte. Sie
setzt den lebensnotwendigen Impuls zum Weitermachen.
Dem gegenüber steht das vitale Bedürfnis nach Innehalten. Ausklinken, einrollen, den
angehaltenen Atem lösen, ans Unbegreifliche herantasten. Dabei helfen Akte der
Pietät. Überspringen wir die Frage, ob ein Formel-I-Rennen ohne
Schampus-Pritschelei, ein Privatsender-Programm ohne Comedy und eine abgesagte
Bürgermeisterparty wirklich optimale Umsetzungen darstellen. Und ob die Münchner
mit ihrer Entscheidung "Oktoberfest - ja oder nein?" nur deshalb so lang herumzipfen,
weil sich die Stimmung ja in einer Woche doch noch zugunsten profitablen Zapfens
wandeln könnte.
Jedem seine eigene Idee von Pietät. Hauptsache ist, dass im aktuellen Klima aus
Angst, Zorn, Unverständnis, Polarisierung, Betroffenheit, Zukunftssorge, Argwohn und
Rachsucht die Gelegenheiten zum (Ge-)Denken nicht ungenützt verstreichen.
(DER STANDARD, Print, 17.09.2001)