Über ein Industriespektakel im Schockzustand und die grundsätzliche Entscheidung zwischen Weitermachen und InnehaltenSo weiter zu machen wie gewohnt kann in dieser Situation auch helfen, sagt der Auto-Manager im branchenkollegialen Talk bei der Frankfurter IAA am 11. September 2001. Werde mich noch oft erinnern an diesen Satz. Doch jetzt ist erst Vormittag, wir reden "nur" über einen familiären Todesfall. Die neuen Autos glänzen, die Messe-Mädels lächeln, die Manager schlagen Räder, die Presse wuselt, die Werbemusik dudelt - alles ganz normal. Kurz vor fünfzehn Uhr kommen die ersten Informationen. Fragmente. Freunde am Handy verständigen Firmenvertreter verständigen Journalisten verständigen Kollegen verständigen Freunde. Noch kein konsistentes Bild. Um wenige TV-Schirme am riesigen Messegelände drängen sich viele, das Unerhörte wird unübersehbar, im Stakkato prasseln neue Meldungen ein. Ein Flugzeug, zwei Flugzeuge, Turm brennt, Turm stürzt, New York, Washington, Pentagon. Die Pressearbeit stockt, vor allem das Personal der großen US-Autokonzerne klinkt sich völlig aus dem Betrieb aus. Diffuse Angst Die Stimmung changiert zwischen persönlicher Besorgnis um möglicherweise Betroffene, düsterer Ahnung von weit reichenden Folgen und diffuser, kollektiver Angst. Um die Welt. Ums Geschäft. Ums eigene Leben. Kaum einer, der nicht daran denkt, was für ein ideales Anschlagsziel die IAA abgäbe - stationiert im Finanzzentrum Frankfurt, voll von hochkarätigen Wirtschaftsbossen, Schaufenster nicht nur für die Wirtschaftskraft Deutschlands, sondern auch für einen der prominentesten Zweige internationaler Industrie -, falls der Terror Europa ebenfalls im Visier hat. Die meisten Messeteilnehmer/innen werden die nächsten Stunden vor Fernseher und Internet brauchen, um die Ereignisse in ihrer vollen Dimension zu erfassen. Jeder zuckt zusammen, als knapp vor sechs Uhr abends eine Feuerwehrsirene übers Gelände heult. Der Tag danach. "IAA absagen", stand im Raum. Interviews gecancelt, Konferenzen gestrichen, Halle 3 gesperrt wegen einer Bombendrohung, Topmanager auf Tauchstation. Reaktionen bekamen fieberhaft recherchierende Nachrichtenreporter/innen lediglich von den PR-Teams. Die US-Konzerne Ford und GM sowie die deutsch-amerikanische Daimler-Chrysler drückten Betroffenheit in Solidaritätsadressen und Trauerminuten aus. Audi-Sprecher Rainer Nistl sorgte sich um Logistikprobleme, steigende Spritpreise und andere Konjunkturdämpfer. Porsche-Öffentlichkeitsarbeiter Anton Hunger sprach sich klar gegen einen IAA-Abbruch aus, "weil man damit den Attentätern das Geschäft erleichtert". Volkswagen wollte gar nichts sagen. (Europas PS-Großmacht kommunizierte übrigens selbst vier Tage nach der Katastrophe nichts Dringlicheres auf ihrer Media-Website als "TV-Star Günter Pfitzmann holt Golf ab".) Richtige Entscheidung Schließlich fällten die Autohersteller-Vereinigungen ACEA und VDA den Entschluss, die Frankfurter IAA fortzusetzen. Allerdings unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen sowie unter Verzicht auf alle Unterhaltungs-elemente. Musik & Mädels wurden gestrichen. Diese Entscheidung war nicht nur verständlich in einem Land, in dem jeder siebente Arbeitsplatz direkt oder indirekt am Auto hängt und das Neufahrzeug-Geschäft ohnehin bereits lahmt. Sie war auch richtig. Terror hat neben akuter Destruktion die latente materielle und mentale Zerstörung zum Ziel. Eine Mischung aus Kontinuität und Pietät ist die beste Verteidigung dagegen. Die Kontinuität erfordern pragmatisch-ökonomische Gründe, quasi buchstäbliche "Der-Betrieb-darf-nicht-zusammenbrechen"-Überlegungen in Hinblick auf Produktion, Konsum, Arbeitsmarkt, Aktienkurs & Co. Kontinuität liefert aber auch das seelische Backup für Menschen, die der Verlust ihrer emotionalen Verankerung paralysierte. Sie setzt den lebensnotwendigen Impuls zum Weitermachen. Dem gegenüber steht das vitale Bedürfnis nach Innehalten. Ausklinken, einrollen, den angehaltenen Atem lösen, ans Unbegreifliche herantasten. Dabei helfen Akte der Pietät. Überspringen wir die Frage, ob ein Formel-I-Rennen ohne Schampus-Pritschelei, ein Privatsender-Programm ohne Comedy und eine abgesagte Bürgermeisterparty wirklich optimale Umsetzungen darstellen. Und ob die Münchner mit ihrer Entscheidung "Oktoberfest - ja oder nein?" nur deshalb so lang herumzipfen, weil sich die Stimmung ja in einer Woche doch noch zugunsten profitablen Zapfens wandeln könnte. Jedem seine eigene Idee von Pietät. Hauptsache ist, dass im aktuellen Klima aus Angst, Zorn, Unverständnis, Polarisierung, Betroffenheit, Zukunftssorge, Argwohn und Rachsucht die Gelegenheiten zum (Ge-)Denken nicht ungenützt verstreichen. (DER STANDARD, Print, 17.09.2001)