Wenn die Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten, Condoleezza Rice, den Sturz des Taliban-Regimes zum Ziel erklärt und ihr ein paar Tage später von Außenminister Colin Powell diametral widersprochen wird - wenn die Taliban Osama Bin Laden ausliefern, hätten sie vielleicht sogar US-Hilfe zu erwarten, sagte er -, so zeigt das nicht nur die Unstimmigkeiten zwischen Falken und Tauben in der US-Regierung auf. Gemeinsam mit anderen Dementis ist es auch als Zeichen einer gewissen Verzweiflung, nüchterner gesagt, eines Dilemmas, zu deuten. Denn wenn die USA die Taliban stürzen, so haben sie Osama Bin Laden noch nicht, und wenn sie ihn haben, dann ist sein länderübergreifendes Terrornetzwerk noch lange nicht zerschlagen. Das ist eine Tatsache, die die US-Politik ihrem verunsicherten Publikum im Moment nur schwer so direkt zumuten kann. Dass sie ihre Differenzen so ungeschminkt exponiert, ist auch eine Art, den Amerikanern das Dilemma näher zu bringen. Allen Beteiligten ist klar, dass man beim Schmieden der "weltweiten Allianz gegen den Terror" nicht nach den im ersten Moment vorgegebenen Richtlinien "Gut" und "Böse" vorgehen kann - auch Rice weiß natürlich genau, wer in der von ihr zur Unterstützung vorgeschlagenen afghanischen Nordallianz, die gegen die Taliban kämpft, sitzt. Es geht immer nur um die Größe der Kröte, die man schlucken muss. Natürlich steht die Absicht im Vordergrund, die Urheber des Terrors zu finden und zu bestrafen. Die wahre Herausforderung für die USA wird jedoch sein, dass sie dabei nicht die - dem Großmachtdenken immanenten - Fehler wiederholen, die zum Teil die jetzige Situation herbeigeführt haben: Das wichtigste Kriterium sollte besser nicht (mehr) sein, was uns dies hier und heute nützt (meistens waren das Geschäfts- oder Hegemonialinteressen), sondern was auf lange Sicht die beste Lösung ist. Auf diesem gewundenen Weg werden die USA einige Unappetitlichkeiten in Kauf nehmen (müssen). Pakistan ist, was Zwiespältigkeit anlangt, ein Paradebeispiel: strategischer Partner Washingtons, aber ein innerlich zutiefst gespaltenes Land, mit dessen Unterstützung für die Taliban die USA heute wohl ganz anders umgehen würden, hätten die Pakistanis nicht die Atombombe. Die Angst, dass diese plötzlich zur gefürchteten "islamischen" Atombombe werden könnte, wird die US-Politik auch bei ihren größten Anstrengungen, die Terrornester auszuheben, mitbestimmen. Schwerer fällt der Pragmatismus den USA im Umgang mit dem Iran, aber der Druck, die Islamische Republik als die Regionalmacht anzuerkennen, die sie nun einmal ist, steigt. Teheran, das in Afghanistan jahrelang sein eigenes Süppchen gekocht hat, steht nun als klassischer Taliban-Gegner relativ gut da - der sensationelle Besuch von Großbritanniens Außenminister Jack Straw zeigt es: Vergessen ist das Todesurteil gegen den britischen Bürger Salman Rushdie. Zwar werden nicht nur in Israel manchen Menschen die Haare darüber zu Berge stehen, dass die EU-Troika in Teheran mit den Schutzherren der Hisbollah über den Terrorismusbegriff fachsimpelte, aber Tatsache bleibt: Wenn eine nachhaltige Lösung für ein Afghanistan nach den Taliban diskutiert wird, wird Teheran mit am Tisch sitzen. Die Liste der "Kröten" ist lang, die USA werden etwa die zentralasiatischen Staaten, den Einfluss Russlands auf sie und ihren wenig demokratischen Umgang mit der - meist islamistischen - Opposition heute mit anderen Augen sehen. Besonders komplex jedoch ist das Verhältnis zu Saudi-Arabien. Die Interessen der USA am Golf sind enorm, niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass sie nicht auch als ungebetene Gäste dort bleiben würden, wenn ihnen Saudi-Arabien die Türe zu weisen versucht. Dieses Szenario, Wasser auf die Mühlen eines jeden islamistischen Extremisten, gilt es zu verhindern. Der Preis, den die USA dafür zahlen müssen, ist noch nicht festgesetzt. (DER STANDARD, Printausgabe 27.09.2001)