Ein Kuss sei nur ein Kuss, hieß es in dem Kult-Film "Casablanca". Ein Küsschen in Ehren könne niemand verwehren, behauptet der Volksmund noch heute. Doch ist das Küssen meist nicht so harmlos, glaubt man der Bremer Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld. Denn er ist ein Symbol des Geschlechtsaktes, und diese Art der öffentlichen Zuneigung war und ist vielen Kulturen suspekt. Kuss und Verbannung Nicht umsonst standen und stehen zum Beispiel oft drakonische Strafen auf das Küssen, schreibt die Forscherin in ihrem Buch "Küss mich", einer Kulturgeschichte über den Kuss. Als ein Bischof im 13. Jahrhundert etwa ungebeten die deutsche Königin auf die Wange küsste, endete er in der Verbannung. Bis heute können Nichtverheiratete nach islamischem Strafrecht einen Kuss mit bis zu 99 Peitschenhieben büßen. Und in vielen Ländern gilt es als unschicklich, sich öffentlich zu küssen, fand die Wissenschafterin heraus. Kuss als Storch Auch galt ein Kuss lange als Eheversprechen und kam damit dem Plan gleich, gemeinsam Kinder zu zeugen. Noch in den sechziger Jahren hielten Eltern ihre Töchter gar mit der Behauptung in Schach, vom Küssen würden sie schwanger, berichtet Ebberfeld aus eigener Erfahrung. Dahinter habe nicht Unwissen gestanden, sondern im Gegenteil das Bewusstsein, dass "der Kuss eine Vorstufe des Geschlechtsverkehrs ist". Doch was ist überhaupt ein Kuss? In manchen Weltgegenden sei er unbekannt, würden andere Formen der Liebkosung praktiziert, hat Ebberfeld ermittelt. Noch um 1900 hätten sich weit mehr Menschen mit den Nasen geküsst als mit dem Mund. Der Mundkuss setzte sich indes nach und nach durch. Darunter verstand 1715 das "Curiöse Frauenzimmer-Lexicon", er sei eine "entbrannte Zusammenstossung und Vereinigung" der Lippen zweier Menschen. Das altindische "Kamasutra" kannte aber weit früher noch erotischere Varianten. "Küsse werden bekanntlich nicht nur auf den Mund appliziert", fasst die Forscherin zusammen. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt jedoch sehe Lippen- oder Zungenküsse als "abgeleitete Fütterungshandlung", weil mancherorts Mütter Nahrung mit dem Mund an ihre Kinder weitergeben. Dem Psychoanalytiker Sigmund Freud zufolge empfinde der Mensch das Saugen an der Mutterbrust nach, denn die Nahrungsaufnahme habe ihm erste sexuelle Gefühle vermittelt. Küssen und Küssen ist ein himmelweiter Unterschied "Absurd", kommentiert die Kulturwissenschafterin solche Theorien, wenn sie an den Oralsex denkt. Das Küssen der Geschlechtsteile lasse sich nicht erklären, wenn nur Tast- und Geschmackssinn und nicht auch der Riechsinn berücksichtigt würden. Viel wahrscheinlicher liege der Ursprung des Küssens im Beschnüffeln und Belecken der Säugetiere zwecks geschlechtlicher Kontaktaufnahme. "Die Aufrichtung des Menschen vom Boden führte dann dazu, dass sich diese Kontaktaufnahme von unten nach oben verlagert hat." Ist der Kuss also reine Folge der Evolution, folgt der Mensch beim Lippenspiel nur einfach seinem Trieb? Individuell ist schon, wem wir die Gunst erweisen, sagt Ebberfeld zum Trost für die Romantiker. "Warum der Kuss entzückt und jener nur erfreut, das weiß die Liebe nur, nicht die Gelehrsamkeit", hieß es in einem Gedicht. In Ebberfelds Worten: "Küssen und Küssen ist ein himmelweiter Unterschied, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß." Begierde, Leidenschaft und Liebe seien mindestens so wichtig wie die Biologie, "sonst zeigen Küsse keine Wirkung". (APA/red)