Ein naturfarbener, grob strukturierter Wollstoff, auf der einen Seite hängen die Wollfäden herunter, gerade so, als sei er eben vom Webstuhl gekommen; das dicke Material wird einfach um die Hüften gewickelt, dazu werden grobe, graue Strickstutzen angezogen, wie von der Oma gestrickt. Ein Pulli, der aus riesengroßen Maschen besteht, dazu ein überbreiter Schal mit der selben Handstrickoptik. Ein Mantel mit einer Außenseite aus feinem Leder und einem wärmenden Innenleben aus Fell, an dessen Kanten langhaariger Pelz hervorlugt: Das sind alles Kleidungsstücke, in die es sich gut einhüllen lässt, in denen man behaglichen Schutz finden kann. Nicht nur vor dem Winter, auch vor der Welt der High-Tech-Materialien und der Multifunktionsfasern, die man manchmal ganz einfach satt hat. Weil sie zu perfekt sind, zu glatt, zu cool. Was sind sie schon gegen die bestechende Schönheit eines gekonnt gegerbten Leders oder eines fein verstrickten Wollfadens, gegen die Energie, die sie speichern und dem Träger und der Trägerin spüren lassen, gegen die olfaktorischen und haptischen Genüsse, die sie bereiten, und gegen den noblen Alterungsprozess, den sie mit Würde durchleben. In dieser kalten Jahreszeit hat die Mode - oder zumindest eine ihrer zahlreichen Strömungen - anscheinend eine heftige Zuneigung zur Unvollkommenheit erfasst, zu den Unregelmäßigkeiten, die ganz von selbst auftauchen, wenn natürliche Materialien eingesetzt werden und der Fokus noch zusätzlich auf deren Ursprünglichkeit gelegt wird. Und seien manche dieser Archaismen auch nur perfekt industriell erzeugt . . . Exemplarisch für diese Tendenz sind die Jacken und die Mäntel mit warmen Innenfell und pelzigen Hinguckern an Ärmeln, Kragen und Saum, die jetzt auf den Kleiderstangen jeder Boutique, die auf sich hält, in Massen abhängen. So richtig archaisch und mystisch wirken die, wenn ihre Oberfläche aus nicht allzu feinem Leder ist und wenn die guten Stücke noch dazu grob zugeschnitten und ungesäumt aussehen. Etwa so, als hätte sie ein Steinzeitmensch soeben aus einem eigenhändig erlegten, wilden Tier gefetzt. Dass ein Kleidungsstück des 21. Jahrhunderts aussieht wie zu Fred Feuersteins Zeiten, ist wahrlich ein modisches Kunststück, hinter dem ein ganzer Haufen Arbeit steht; Luxus "primitif", sozusagen. Ein Teil der Wintermode bewegt sich also eindeutig in Richtung Vergangenheit. Und streift auf dieser Zeitreise nur peripher die mittlerweile unsäglichen 70er-Jahre mit bestickten Hippie-Lammfellmänteln und Patchwork-Handstrick-Pullis. Nein, sie holt sehr viel weiter aus, sie ist unterwegs zu ihren eigenen Ursprüngen, zur Urzeit der Hüllen, die wir zwischen unsere Körper und die bisweilen arg feindliche Umwelt schieben. Denn schließlich fängt die Geschichte der Bekleidung ja mit den Tierfellen an, die sich Menschen zum Schutz vor Wind, Wetter und vielleicht auch dem kratzigen Unterholz um den Körper wickelten und mit Knochen und Gräten befestigten. Und somit ist jetzt auch der richtige Moment für einen kurzen historischen Exkurs gekommen: Bereits in der Jüngeren Steinzeit - und das war immerhin schon um 20.000 vor Christus - gab es das, was wir heute als Kleidungsstück anerkennen würden. Das bezeugen einige Felsmalereien in Spanien und Südfrankreich, auf denen unter anderem Röcke für Frauen und Hosen für Männer zu sehen sind, primitiv zusammengestückelt aus nicht zugeschnittenen Fellteilen. Und auch schon damals soll sich die Kleidung nicht nur auf diesen Schutzeffekt beschränkt haben, sondern darüber hinaus magische und symbolische Bedeutung gehabt haben. Felle galten in dieser Zeit, so erzählt uns Ingrid Loschek in ihrem von Reclam herausgegebenen Mode- und Kostümlexikon, anscheinend auch als Rang- und Würdezeichen, wie später etwa das Leopardenfell ägyptischer Hohepriester oder das Löwenfell des griechischen Sagenheldens Herakles. Historisch belegte Fellträger gibt es übrigens zuhauf: Wikinger wärmten sich mit langen Fellumhängen aus grauem Feh (dem Fell der süßen Eichhörnchen), Gallier bevorzugten Schaf-oder Ochsenfelle, Germanen die mit einer Fibel geschlossenen Kittel aus Wolfs- oder Bärenfell. Bei so manchem gewollt primitiven Teil aus den aktuellen Winterkollektionen, sei es aus Fell, Leder oder Pelz, stellen sich durchaus derartig archaische Bilder ein: der Pelz, der über die Schulter geworfen wird, bevor es hinausgeht zur Jagd oder zum Kampf; der wollige Mantel des Hirten, der in Kontemplation und Einsamkeit seine Schafe hütet, der unregelmäßig gewebte Stoff eines Mantels, der die selbe Struktur hat wie ein Fundstück aus einem urkundlichen Museum. Und so spielt Mode wieder einmal mit unseren Sehnsüchten: mit der nach einer scheinbar einfacheren Welt, mit der nach dem Ursprung und seinen Mysterien und der nach dem Trost der Dunkelheit. der Standard/rondo/2/11/01