Mit Sir Ernst Gombrich starb 92-jährig der mit Abstand populärste Kunsthistoriker. Für ihn gab es stets nur Künstler. Die "Kunst" als Überbegriff lehnte er ab: "Ich glaube nicht an Definitionen." Die (Kunst-)Geschichte verstand er als Kette von Einzelleistungen - fernab göttlicher Funken. London - Er hielt es für lächerlich, Wien als seine Heimat zu betrachten. Er würde zwar von daher kommen, aber längst nicht mehr dort zu Hause sein, ja kaum noch Leute dort kennen. Ebenso wenig empfand sich der "Sir" als "Engländer". Englischer Staatsbürger sei er, mehr nicht. Heimat? "Akademiker!" 1909 wurde Ernst Hans Josef Gombrich in Wien geboren. Alles um ihn herum war gutbürgerlich: Seine Mutter, eine Pianistin, hatte noch bei Anton Bruckner studiert. Sie spielte mit Arnold Schönberg, sie unterrichtete Gustav Mahlers Schwester. Und sie wusste noch zu erzählen, wie es war, als Johann Strauss im Volksgarten auftrat. Ernstens Vater war Anwalt, angeblich mit Hugo von Hofmannsthal befreundet. Gombrich zählte das Begräbnis von Kaiser Franz Joseph zu seinen frühen Erinnerungen. Da war er gerade sieben Jahre alt und genoss am Wiener Theresianum Disziplin und Tiefe humanistischer Bildung. Die Familie jüdischer Herkunft konvertierte zum Protestantismus. Ab 1928 studierte Gombrich Kunstgeschichte und Klassische Archäologie an der Universität Wien bei Julius von Schlosser, Emanuel Loewy und Hans Tietze, begann aber nebenher Territorien außerhalb des festen Lehrgebäudes "Wiener Schule der Kunstgeschichte" zu erobern. Psychologie war angesagt. Er besuchte in Wien die Vorlesungen und Seminare des Psychologen und Linguisten Karl Bühler und zog während seines Berlin-Semesters Wolfgang Köhlers Analysen des Verhaltens von Affen Heinrich Wölfflins Vorlesung "Italien und das deutsche Formgefühl" vor. 1934 promovierte er über Giulio Romanos Palazzo del Tè in Mantua. Hauptthese: Romanos Stilpluralismus läge nicht in dessen Wesen begründet, sondern sei Ergebnis einer bewussten Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten. Ein Brotjob nach dem Studium geriet Ernst Gombrich dann zum ersten Bestseller. Eine Weltgeschichte für Kinder hätte er aus dem Englischen übersetzen sollen. Stattdessen schrieb er selber eine. Die Vorlage wäre zu schlecht und die sechs Wochen Zeit wären ausreichend gewesen, etwas Besseres zu verfassen, meinte er - und schrieb ein Märchen. Einfach und eindringlich erklärte er Geschichte als Verkettung von Ereignissen. "Es war einmal...", begann er zu berichten, um in Folge klar zu machen, dass daran, was war, nichts Metaphysisches zu finden ist, dass sich all das aus menschlichem Verhalten heraus eben so zugetragen hätte - bestimmt durch die Psychologie der Akteure, vorangetrieben durch das Verfahren "trial and error" und von manchen Menschen, die Leistungen vollbringen, die die meisten anderen eben nicht zu vollbringen vermögen. Bis heute wird seine Kurze Weltgeschichte für junge Leser gelesen und ist mit dafür verantwortlich, dass Ernst Gombrich als einer der wenigen Kunsthistoriker über die Fachgrenzen hinaus bekannt ist. Problem und Lösung Und wer einmal mit diesem didaktischen Frühwerk seine Allgemeinbildung aufgefrischt hat, dürfte dann auch das verspätete Nachfolgeprojekt, Gombrichs Story of Art , gelesen haben. Und sich zumindest an dessen Anfang noch erinnern: "Es gibt keine Kunst. Es gibt nur Künstler." Und die bilden ab. Daraus ergeben sich zwangsläufig Probleme. Gilt es doch, die unfassbare Komplexität der Natur auf die zwei Dimensionen des Bildes zu reduzieren. Ein guter Künstler ist dann jener, der zumindest zu einem Teilproblem eine adäquate Lösung anzubieten hat. Und dazu bedarf es weder eines göttlichen Funkens noch einer Vorherbestimmung. Es erfordert auch keinen Schöngeist. Alois Riegls "Kunstwollen" war Gombrich ebenso suspekt wie der Hang zum Historizismus oder verstiegene Formalanalysen: Fortschritt ergebe sich aus dem stets neu zu verhandelnden Verhältnis von Tradition und Innovation. Das schließt sozialpsychologische Faktoren genauso mit ein wie technischen Fortschritt - und das Konkurrenzverhältnis der Künstler untereinander -, distanziert sich aber klar von jeglichen psychologisierenden Ableitungen der Form aus dem "Geist" der Zeit. Es war um 1950, als Ernst Gombrich immer noch derart gegen Hegel anschreiben musste. 1936 musste er aus Wien nach London emigrieren. Sein Freund, Ernst Kris, in Wiener Tagen Kustos am Kunsthistorischen Museum, später Psychoanalytiker in New York, vermittelte ihm eine Stellung am Warburg-Institut, das, ebenfalls auf der Flucht vor den Nazis, nach London übersiedelt war. Nach dem Krieg - Gombrich war verpflichtet, für die BBC deutsche Nachrichten abzuhören - kehrte er ans Warburg-Institut zurück. Von 1959 bis 1976 war er dessen Direktor. Aby Warburg galt seine einzige monographische Arbeit. Der populärste aller Kunsthistoriker arbeitete kaum "kunsthistorisch". In Kunst und Illusion fasste er 1960 seine Artikel und Vorträge zur Psychologie der bildlichen Darstellung zusammen. In der Aufsatzsammlung Bild und Auge widmete er sich 1982 erneut den grundlegenden Fragen: Wie nehmen wir Bilder wahr? Wie werden Bilder gemacht? Auch sein Spezialgebiet, die Renaissance, ist in einem Kompendium von Aufsätzen abgehandelt. Die Moderne interessierte Gombrich wenig. Er glaubte nicht daran, dass man ungestraft Traditionen über Bord werfen könne. Und dass jeder ein Künstler sein sollte. Lucian Freud mochte er: "Der konnte noch malen." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7. 11. 2001)