Die Türen schließen sich. Wir tauchen ab. Nein ein. Durch dunkle Gewässer hinein in die dämmerig erleuchteten Kopfraum-Welten des Jon Fosse. Seit erst eineinhalb Jahren beobachten wir sie auf der Bühne, die schwerfälligen, schwermütigen Fosse-Menschen, denen auch die Zunge bleischwer im Mund liegt: kaum je mehr als drei zusammenhängende Worte passieren die Schranken ihrer Lippen, ausreichend immerhin, einander zu verstören, zurückzuweisen, zu verletzen. Dass sich in ihrem Inneren, hinter der Wand aus Schweigen, die die Gefühle luftdicht gegen die Außenwelt verschließt, ein anderes Panorama auftun würde, stand zu vermuten. Nun also sind wir innen gelandet. Und siehe, die Sprache rast. Die Gedanken umkreisen die Objekte ihres Begehrens in nimmermüden Endlos-Schleifen, lediglich geringfügig variiert im Wechsel der Stunden. Zwei Romane des Norwegers Jon Fosse sind im Schlepptau seiner Bühnen-Erfolge nun auf deutsch erschienen, sein Opus Magnum Melancholie, und Morgen und Abend, eine zarte kleine Erzählung, die den Begriff Roman eher als Bürde auf ihrem schmalen Buchrücken trägt. Genaugenommen handelt es sich sogar um drei Bände: im norwegischen Original erschien Melancholie in zwei Teilen. Mit einem Jahr Verspätung erst folgten den ersten drei Partien des Buches weitere hundert Seiten, eine weitere Perspektive, ein weiterer Kopf-Innenraum. Denn in beiden Romanen steigen wir in die düsteren warmen Schädelhöhlen der Protagonisten, blicken durch den verengten Horizont ihrer Augenöffnungen. Fosse-Menschen leben in Randbezirken - geographisch wie vom Bewusstseinszustand her. Der Maler Lars Hertervig, in dessen Kopf wir uns in Melancholie begeben, steht im ersten Teil des Romans am Rande des Wahnsinns. Drei Jahre später - Teil zwei - vegetiert er, umgeben vom Irrsinn der Ärzte, in einer Nervenheilanstalt. Seiner Schwester Oline, einer einfachen Frau vom Meer (Teil vier), und dem Fischer Johannes, Zentralfigur von Morgen und Abend, begegnet der Leser in den Stunden vor ihrem Tod. Das Alter hat ihr Gedächtnis geschwächt, die Gedanken verwirrt. Die Daseinsebenen verschwimmen vor ihrem Blick, als hätte man Fosses Figuren die dicken Lebens-Augen-Gläser abgenommen: Realität und Erscheinung, Existenz und Tod fließen unmerklich ineinander über. Das ist beunruhigend und gleichzeitig erfüllt von einem eigentümlichen, fast religiös zu nennenden Frieden. Einer Ruhe, die Fosse den Texten durch den seltsam hypnotischen Rhythmus seiner Sprache erschreibt. Schnell ist die äußere Handlung des ersten Teils von Melancholie erzählt. Der junge Lars Hertervig studiert, ermöglicht durch das Stipendium des Konsuls von Stavanger, Malerei bei Hans Gude an der Kunstakademie Düsseldorf. Er liebt Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner verwitweten Vermieterin und wird deshalb von deren um die Unschuld seiner Nichte besorgten Schwager vor die Tür gesetzt. Und seine minder begabten Mitstudenten verlachen die ländliche Naivität des Quäker-Jungen vom Land. Das magere Handlungsgerüst, für dessen Wiedergabe Heinrich von Kleist, der große Prosa-Beschleuniger, gerade zwanzig Zeilen und eine Unzahl von Kommata benötigt hätte, füllt bei Fosse, dem Prosa-Verlangsamer - ohne zusätzliche Nebenereignisse - zweihundert Seiten. In einfacher, kindlich naiver Sprache schraubt Fosse die obsessiven Gedankenschleifen Hertervigs, in endlosen Variationen die immergleichen Gedanken wiederholend, die Liebe zu Helene und die Angst vor dem Lehrer, der am Tag der Handlung seine Malerei beurteilen sollte. "Hans Gude. Heute wird Hans Gude mein Bild ansehen. Aber ich traue mich nicht anzuhören, was Hans Gude sagt, denn wenn Hans Gude, der wirklich malen kann, sagt, dass ich nicht malen kann, dann kann ich wirklich nicht malen. Dann muss ich nach Hause zurück und bin wieder Malergesell und mehr nicht. Und ich will doch so gern die schönsten Bilder malen und niemand kann malen wie ich. Denn ich kann malen. Aber die anderen Studenten, die können es nicht." Zweihundert Seiten verfolgen Hertervig und Fosse, mit der Beharrlichkeit der Obsession, diesen und ähnliche Gedanken. Das mag verstörend wirken, langweilen, faszinieren. Ob Lars Hertervig, der norwegische Landschaftsmaler, der tatsächlich lebte und dessen wolkenreiche Landschaftspanoramen in der Osloer Nationalgalerie hängen, ob Oline oder der Fischer Johannes: Hinter dem weißen Rauschen ihrer simplen Gedanken aber entsteht die Stille. (Von Cornelia Niedermeier - DER STANDARD, Album, Sa./So. 10./11.11.2001)