Im Stundentakt schreibt die Nordallianz nun die militärische Karte Afghanistans um und nimmt seit dem Fall von Mazar-e Sharif angeblich Provinz um Provinz ein. Die wundersame Wandlung der trotz massiver Hilfe der USA wochenlang erfolglosen Allianz ist noch unerklärt, doch die politischen Folgen sind absehbar: Mit der Siegesserie der Nordallianz wächst der Druck auf Washington, eine vorzeigbare Regierung für die Zeit nach dem Sturz der radikal-islamischen Taliban auf die Beine zu stellen. Die "warlords" der Nordallianz werden schwerlich allein diese Alternative sein. Ihr letzter Aufenthalt in Kabul endete in einem Scharmützel, und fünf Jahre Stellungskrieg gegen die Taliban haben nur neue Rivalitäten gebracht. Neben dem alten, religiös konservativen Flügel um den Exilpräsidenten Burhanuddin Rabbani hat sich ein jüngerer, prowestlicher Flügel um den Allianz-Außenminister Abdullah und Innenminister Qanuni hervorgetan. In dem Maße, wie sich die USA in das Machtgefüge der - überaus losen - Allianz einmischen, wächst die Gefahr, dass ihr eigenes Kriegsziel aus den Augen gerät - die Zerstörung des Terrornetzes al-Qa'ida und des mit ihm verbundenen Taliban-Regimes. Mazar-e Sharif wird deshalb zum Exempel des Nachkriegs- Afghanistan: Gelingt der Aufbau einer friedlichen und politisch repräsentativen Verwaltung in der Stadt, mag dies als Vorbild für die Bevölkerungsmehrheit im Land, die Paschtunen, wirken und den Sturz der Taliban beschleunigen; schlägt der Versuch fehl und kommt es in den eroberten Städten zu neuen Racheakten an den Zivilisten, verspielen die Amerikaner die Chance, auch die Paschtunen auf ihre Seite zu ziehen. Die Nordallianz ist der ungebetene Bündnispartner der USA in diesem Krieg gegen den Terrorismus. Außer Geld und gutes Zureden haben die Amerikaner kein Druckmittel auf ihren Partner. (DER STANDARD, Print, 12.11.2001)