Wer bekommt schon gerne Noten, noch dazu schlechte? In Polen wurde schon Wochen vor der Veröffentlichung des EU-Fortschrittsberichtes über die Einser und Fünfer aus Brüssel diskutiert. Ganz so dramatisch, wie zunächst befürchtet, sieht es nach Vorliegen des jüngsten Zwischenzeugnisses der Europäischen Kommission nicht aus. Mit der Durchschnittsnote "befriedigend" liegt das größte Kandidatenland im Mittelfeld.

Problematisch ist aus Brüsseler Sicht die seit Jahren steigende Arbeitslosigkeit in Polen. Auf knapp 18 Prozent ist die Arbeitslosenquote in Polen gestiegen, Ende des Jahres könnte sie sogar 20 Prozent erreichen. Für die Umstrukturierung im Kohlesektor wird Polen ausdrücklich gelobt. Im Stahlsektor aber ist noch viel zu tun. Die Stahlhütten arbeiten unproduktiv und stecken tief in den roten Zahlen. Nach wie vor schwierig ist auch die Situation in Polens Landwirtschaft. Die längst überfällige Reform muss spätestens 2002 durchgeführt werden.

Tempo zugelegt

Ein weiteres Problem, mit dem sich aber auch viele Altmitglieder herumschlagen müssen, ist die in Politik und Wirtschaft um sich greifende Korruption. Sie reicht bis in die Gerichtssäle hinein und hat im letzten Jahr zu mehreren aufsehenerregenden und eindeutigen Fehlurteilen geführt. Andererseits wird Polen ausdrücklich bescheinigt, bereits heute alle politischen Kriterien für den EU-Beitritt zu erfüllen. Lobend wird auch hervorgehoben, dass Polen nach langem Stillstand in den Verhandlungen nun wieder Tempo zulegt. Seit der Regierungsübernahme durch den Sozialdemokraten Leszek Mittel hat Polen bereits zwei weitere Verhandlungskapitel mit der EU abgeschlossen.

So sind auch die ersten Reaktionen auf den Fortschrittsbericht aus Brüssel eher positiv. Staatspräsident Aleksander Kwasniewski sieht ihn als einen Ansporn an. Die neue Regierung sei in der Lage, die notwendigen Gesetzesänderungen schneller als die bisherige durchzuführen. Premier Miller will bereits heute, Mittwoch, den neuen Fahrplan zur Vorbereitung auf den EU-Beitritt vorstellen.

Die Stimmung in Polen aber verschlechtert sich immer mehr. Jüngsten Umfragen zufolge sind nur noch 46 Prozent für einen Beitritt zur Union.

(DER STANDARD, Printausgabe, 14.11.2001)