Die Fernsehbilder vom Jubel der Bewohner Kabuls, die gestern vom Joch der Taliban befreit worden sind, täuschen nicht darüber hinweg, dass im Kampf gegen den Terror noch viele Fragen offen bleiben.

Die von den USA nach den monströsen Anschlägen vom 11. September geschmiedete Koalition gegen den Terror hat ihr Hauptziel keineswegs erreicht: Vom mutmaßlichen Drahtzieher Osama Bin Laden gab es am Dienstag keine Spur. Und auch das in vielen Staaten aktive Al-Qa'ida-Netzwerk ist noch nicht zerschlagen.

Für Afghanistan hatten die USA vor der Vertreibung der Taliban aus der Hauptstadt die Etablierung einer neuen, alle Volksgruppen umfassenden Regierung vor. Doch die mithilfe der UNO und unter Einbeziehung der afghanischen Nachbarstaaten geführten Verhandlungen kamen nicht vom Fleck.

Den Wintereinbruch und die damit für die Bevölkerung verbundene Hungerkatastrophe vor sich, wechselten die USA am 31. Oktober unvermutet ihre Strategie: Hatten sie bis dahin auf massive Luftangriffe gegen militärische Frontstellungen der Taliban bewusst verzichtet, weil sie dem wilden Haufen der Nordallianz nicht trauten, bombten sie dieser nun den Weg in den Süden frei. Zwar hatte Präsident George W. Bush noch am Samstag erklärt, er wünsche nicht, dass die Nordallianz in Kabul einmarschiert, aber die von der Air Force bewirkte Schwächung der Taliban-Milizen lud gleichzeitig dazu ein. Gestern sagte Bush, er sei über die in Afghanistan gemachten "Fortschritte erfreut".

Jetzt wird es zuallererst darauf ankommen, mit groß angelegten Hilfslieferungen für die von Krieg und Dürre ausgepowerte Bevölkerung auf dem Luft- und auch auf dem Landweg zu beginnen. Damit diese Hilfe aber nicht bewaffneten Banden in die Hände fällt, ist die Schaffung einer Ordnungsstruktur ein gleichfalls vordringliches Ziel. In der von der Nordallianz eingenommenen Stadt Mazar-e Sharif sollen sofort hundert Menschen hingerichtet und Häuser geplündert worden sein. Auch aus Kabul, wo einige der nun in der Nordallianz verbündeten Mudjahedin-Gruppen 1992 eine grausame Willkürherrschaft errichtet hatten, wurden ebenfalls schon Übergriffe gemeldet.

UNO und USA wollen nach Afghanistan eine Friedens-und Ordnungstruppe entsenden, die von nicht arabischen muslimischen Staaten gestellt wird. Bangladesch, Indonesien und auch die Türkei sind zur Teilnahme bereit. Nicht zu übersehen ist dabei aber, dass speziell die Türken in den einst sowjetischen zentralasiatischen Republiken auch politische Ziele haben. Sie gehören zu den Förderern eines auch von US-Firmen betriebenen Projekts, von den Erdgasfeldern Turkmenistans eine Pipeline quer durch Afghanistan zum pakistanischen Hafen Karatschi zu bauen.

Positiv am Plan einer muslimischen Friedenstruppe ist aber, dass sich auch einzelne Anführer der Nordallianz mit dieser Idee anfreunden können. Ein Sprecher von Burhanuddin Rabbani, vor der Machtübernahme durch die Taliban 1996 Präsident Afghanistans, hat gestern auch erklärt, dass die Nordallianz am Friedensprozess unter der Führung des in Rom lebenden Exkönigs Zahir Schah festhalten wolle. Analytiker der Lage erklären, nun käme es darauf an, die paschtunischen Stämme im Süden des Landes (aus denen sich die Taliban hauptsächlich rekrutierten) in eine Verhandlungslösung ein- zubeziehen.

Angesichts der atemberaubenden Frontwechsel zahlreicher seit den 70er-Jahren im Afghanistankonflikt verwickelten Anführer muss man sich vor Augen halten, dass echte Loyalität in diesem ethnisch zersplitterten Land nur dem eigenen Stamm gilt. Bündnisse werden je nach Opportunität geschlossen. Nun wird auf die Einsicht der Paschtunenführer gehofft, die mit den Taliban nichts mehr zu gewinnen hätten. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass es dabei bald zu einer alle Seiten zufrieden stellenden Lösung kommt: Der von Bush ausgerufene "Krieg gegen den Terror" ist damit längst noch nicht vorbei. (derstandard,print-ausgabe,14.11.2001)