Was US-Präsident George W. Bush und sein russischer Gast Wladimir Putin jetzt in Washington groß verkündet haben, ist von der Sache her eine schiere Selbstverständlichkeit. Welcher vernünftige Mensch könnte zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion die Aufrechterhaltung eines Atomwaffenarsenals von 6000 bis 7000 Sprengköpfen auf jeder Seite und die damit verbundenen Kosten noch rechtfertigen?

Es ist der ABM-Vertrag aus dem Jahr 1972 (!), der dieses Atomwaffenarsenal zum Fundament eines durch wechselseitige Vernichtungsgarantie gesicherten Friedens macht. Denn dieser Vertrag untersagt beiden Seiten ein wirksames Raketenabwehrsystem.

Eine an sich perverse Logik. Im tiefsten Kalten Krieg aber mangels Alternativen die einzige Möglichkeit der Friedenssicherung. Abgesehen davon, ob ihr Raketenabwehrprojekt sinnvoll und überhaupt technisch machbar ist, hat die US-Administration unter Bush zweifellos Recht, wenn sie den ABM-Vertrag als überholtes Relikt bezeichnet.

Inzwischen hat der 11. September das Bedrohungsszenario weltweit dramatisch verändert. Dies fördert auch die Annäherung der einstigen Kalten Krieger. Noch vor wenigen Monaten drohte Putin mit der Aufstellung von Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen: Dies sei die billigste Antwort auf ein US-Abwehrsystem. Jetzt verkünden die Präsidenten Russlands und der USA eine Verringerung des Atomwaffenarsenals auf ein Drittel.

Putin hat die Möglichkeiten, die ihm Bushs Antiterrorallianz bietet, erkannt und genutzt. Nach seiner beeindruckenden Rede im Berliner Bundestag in deutscher Sprache präsentiert sich der Kreml-Chef jetzt den terrorgeschockten US-Bürgern ein weiteres Mal als sympathischer, berechenbarer Partner. Das ist gut für die Atmosphäre in diesen Zeiten allgemeiner Verunsicherung, nicht nur in den USA. Und es ist Balsam für das ramponierte Selbstwertgefühl der Russen.

Dennoch sollte dadurch nicht der Blick auf die Realitäten getrübt werden. Zur gleichen Zeit, als Bush und Putin in Washington den Raketenabbau ankündigten, wurde in Moskau bekannt, dass der russische Geheimdienst einen illegalen Weiterverkauf von Nuklearmaterial vereitelt hat, das sich auch zum Bau von Atomwaffen eignet.

Die Bush-Administration wird darin, ungeachtet aller anderen Konsequenzen aus dem 11. September, ein schlagendes Argument für ihr Raketenabwehrprojekt sehen. Dass "Schurkenstaaten" oder von ihnen gedeckte Terroristen Atomraketen einsetzen oder zumindest zu erpresserischen Zwecken benutzen könnten, war schon bisher Teil des von den USA entworfenen neuen Bedrohungsszenarios. Von Osama Bin Laden wird der Ausspruch kolportiert, auf dem Schwarzmarkt sei eine Atombombe um zehn bis 20 Millionen Dollar zu haben.

Sowohl was diesen nuklearen Schwarzmarkt als auch was die Risikostaaten betrifft, gibt es für Russland vermehrten Handlungs-, zumindest aber Erklärungsbedarf. Hand- lungsbedarf im Kampf gegen die mafiosen Strukturen, die sich nach dem Ende der Sowjetunion in Wirtschaft und Gesellschaft und speziell im militärisch-industriellen Komplex herausgebildet haben. Erklärungsbedarf dort, wo Moskau noch immer spezielle Beziehungen mit Regimen wie dem des irakischen Diktators Saddam Hussein aufrechterhält.

In seinem Bekenntnis zur Kooperation wirkt Wladimir Putin persönlich glaubwürdig. Alle seine westlichen Gesprächspartner zeigen sich beeindruckt. Bleibt die Frage, ob sich der Kreml-Chef gegen das noch immer weit verbreitete alte Konfrontationsdenken und die Machtkartelle im eigenen Land durchsetzen kann. Dabei wird ihm aber weniger die Reputation im Westen als vielmehr die Entschlossenheit bei der Umsetzung vor allem der Wirtschaftsreformen nutzen. Nur diese können Russland zu dem wirklich starken Land machen, das es gerne sein möchte - und im globalen Interesse auch sein sollte.

(DER STANDARD, Printausgabe, 15.11.2001)