Mérida/Wien - Bisher ging die Linguistik davon aus, dass der Erwerb von Sprache automatisch mit Substantiven beginnt. "Doch das ist eine ziemlich eurozentrische Sicht der Dinge", weiß Barbara Blaha Pfeiler, Ethnologin und Linguistikprofessorin an der Universität Mérida in Mexiko. "Kinder, die eine Maya-Sprache, Koreanisch oder Mandarin lernen, beginnen mit den Verben." Über ihre Langzeitstudie in Yucatán berichtete sie diese Woche an ihrer Alma Mater, der Uni Wien. Heute lebt das Volk der Maya in Mexiko, Guatemala, Honduras und Belize und bringt es auf die erstaunliche Vielzahl von 24 Sprachen. "Echte Sprachen, ohne Einrechnung der Dialekte", erklärt Pfeiler dem STANDARD, "und sie unterscheiden sich so stark voneinander wie die romanischen in Europa." Die Sprachwissenschafterin selbst erforscht das Maya Yucateco und arbeitet im Vergleich mit drei weiteren Maya-Sprachen, dem Quiché (Guatemala) und den in der mexikanischen Provinz Chiapas gesprochenen Tzeltal und Tzotzil. (K)a hantiko'ob Ihr Team geht dabei nicht vom kognitiven Aspekt des Spracherwerbs aus, sondern direkt von der gesprochenen Sprache. Typologisch gehört das Maya Yucateco zu den agglutinierenden und flektierenden Sprachen, das heißt, es spielen sowohl die Prä- und Suffixe, die an den Wortstamm angehängt werden, eine Rolle als auch die Konjugation der Verben. (K)a hantiko'ob etwa heißt auf Yukatekisch "du isst sie" (zum Beispiel Früchte). Hant- ist der Wortstamm, -ik ist imperfektivisch, deutet also auf eine nicht abgeschlossene Aktion hin, und o'ob ist das Objekt im Plural (sie). Bis dahin ist die Form agglutinierend. Aber (k)a heißt "du", und das ist flektierend. Und was bedeutet dieser Doppeltypus für den Sprach- erwerb bei Kindern? Pfeiler: "Da das Yucatekische bei Substantiven keine Fälle kennt und sich die meiste Grammatik im Verb abspielt, werden Verben entsprechend häufiger benutzt. Und Kinder sprechen zuerst das nach, was sie am meisten hören. Maya-Kinder verwenden daher mit zwei Jahren wesentlich mehr Verben als Substantive." Neben dieser typologischen Begründung gibt es aber auch noch eine kulturelle: Europäer seien, so Pfeiler, eher objektbezogen und erklärten ihren Kindern mit Vorliebe Gegenstände. Den Maya hingegen sei dieser "lehrende" Aspekt fremd. Sie gingen davon aus, dass Kinder ihre Sprache ganz von allein lernen. Kann man nach diesen Erkenntnissen überhaupt noch behaupten, die Fähigkeit zum Spracherwerb sei angeboren? Pfeiler: "Eine Prädisposition in den Neuronen ist sicherlich vorhanden. Die sich daraus entwickelnden Sprachmodule und -strukturen hängen allerdings vom sozialen Kontakt mit anderen Menschen ab." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 11. 2001)