Warum uns Boris Pahors "Nekropolis" so spät erreicht
,
Manches Buch hofft man sich ersparen zu können, um später doch zu erkennen, dass
es genau dieses Buch war, das einem gefehlt hat. Ein solches Buch ist Nekropolis,
das im slowenischen Original 1967 erschienen ist und jetzt mit großer Verspätung
auch den deutschen Sprachraum erreicht hat. Boris Pahor erzählt darin von einem
schönen Sommertag in den Sechzigerjahren und von der Höllenfahrt, auf die er
zwanzig Jahre zuvor durch die Konzentrationslager Natzweiler, Dachau, Dora-Mittelbau,
Harzungen, Bergen-Belsen geschickt wurde. Um davon reden zu können, was ihm
widerfahren ist, hat der Autor durch ein langes, lebensbedrohliches Schweigen gehen
müssen, und er zweifelt auch in seinem Erinnerungsbuch noch stetig daran, ob es
zulässig ist zu berichten, was er berichten muss: "man kann sich über den Tod wie
über die Liebe doch nur mit sich selbst unterhalten . . . Weder Tod noch Liebe ertragen
Zeugen." Zögernd, sich selbst ins Wort fallend, die Fragwürdigkeit des Erinnerns,
Schreibens, ja Überlebens bedenkend, erzählt Pahor indes gerade davon: vom Tod
und von der Liebe.
Eines friedlichen Sonntags kehrt der slowenische Schriftsteller nach Natzweiler, das
Lager in den Vogesen, zurück, in das er im Januar 1944 deportiert worden war. Er
geht, eine Gruppe von pflichtbewusst erschütterten Touristen in Hörweite, die Wege
und Treppen, die er damals gegangen ist, zuerst als Häftling unter Tausenden, dann
als Krankenpfleger, schließlich als Träger der Toten: oben der Galgen, unten die
Verbrennungsöfen, dazwischen die Baracken der Häftlinge. Jetzt ist Natzweiler eine
viel besuchte Gedenkstätte, eine "nécropole nationale", damals war es ein Lager, in
das eine Internationale der Verdammten gepfercht wurde: Franzosen, Niederländer,
Polen, Ungarn, Slowenen, Kroaten, Serben, Italiener. Sie Gefährten zu nennen, fällt
dem Überlebenden nicht leicht, denn die systematische Entwürdigung hat Solidarität
kaum zugelassen: "Keine Lehrbücher werden je die Stimmung jenes Menschen
wiedergeben können, der den Eindruck hat, sein Nachbar habe um einen halben
Finger mehr gelbe Flüssigkeit in seine blecherne Schüssel eingeschenkt
bekommen."
Und doch ist dieser Bericht, der vom elenden Verrecken, Verhungern, Austrocknen,
Erfrieren, vom grausam verlängerten Erhängen und allgegenwärtigen Tod erzählt,
auch ein großes Freundschaftsbuch, das die Liebe in den geringsten Gesten der
Hilfe, des Zuspruchs, der Zärtlichkeit beschwört. In Natzweiler steht heute ein 45 Meter
hoher Obelisk, vor dem "jeder Franzose, der in der deutschen Krematorienwelt zu
Staub wurde, sein eigenes Kreuz hat". Ein anderes Monument, in das Pahor die
Namen seiner Gefährten halb Europa eingraviert, ist dieses Buch.
Da sind Ivo, der alte slowenische Freund, Tomaz, der sterbend vom schweren Rotwein
seiner Heimat Istrien träumt, der Ungar János, der französische Arzt André, der
hünenhafte Norweger Leif, der kroatische Frauenheld Vlado, der keine Frau mehr
sehen wird, da sind die vielen anderen, mit denen er die gerade Verstorbenen
schwankend die Treppen hinuntertrug und von denen endlich selbst viele zu den
Verbrennungsöfen getragen wurden. Es ist wie ein Akt des Widerstands, dass Pahor
seine Mitgefangenen, die ihrer Individualität beraubt und als Namenlose ermordet
wurden, gerade als Individuen zu würdigen versucht: Er referiert ihre außerhalb des
Lagers zurückgelassenen Biografien, skizziert ihren Charakter, beschreibt ihre Art zu
überleben und zu sterben. Und immer wieder wird ihm daraus ein Lob der
Freundschaft, ein Preis der Menschen, die im Angesicht des Todes, zermürbt von
Hoffnungslosigkeit und Hunger, doch so etwas wie Gemeinschaft zu behaupten
suchten, da einen Kranken retteten, dort einem Sterbenden den letzten Dienst
erwiesen.
Einer von ihnen ist Gabriele, der Italiener. Erschrocken wurde der Häftling Pahor
damals gewahr, dass zwischen ihnen beiden ausgerechnet hier, "im Umfeld des
Ofens", eine Begegnung möglich war. Das ist nicht selbstverständlich, denn Pahor
wurde 1913 als Angehöriger der slowenischen Minderheit im Hinterland Triests
geboren, und das hieß, dass er die nationale Entrechtung von klein auf erfuhr. 1920
brannten italienische Nationalisten in Triest das slowenische Theater nieder, und die
Faschisten erließen eine Serie von Gesetzen, die den Slowenen das nationale
Überleben erschweren sollten. In der Schule spuckte der italienische Lehrer jenen
Kindern, denen ein Wort in ihrer Muttersprache entkommen war, in den Mund, und "die
Ungeheuerlichkeit erreichte ihren Höhepunkt, als man Tausenden und Abertausenden
die Vor- und Nachnamen änderte, jedoch nicht nur den Lebenden, sondern auch
denjenigen, die schon auf dem Friedhof lagen."
Im Lager treffen der Slowene und der Italiener aus derselben, der national strikte
getrennten Stadt aufeinander, offenbar nur hier ist es ihnen möglich, über die
Schranke ihrer Nationalität zueinander zu finden: "Kann dir ein Italiener aus Triest nur
dann näher kommen, wenn er selbst in Gefahr ist, vernichtet zu werden?"
Was ihn schon als Schulkind so viel Unrecht erfahren ließ und ihn später ins Lager
brachte, dass er ein Slowene war, das rettete Pahor in Natzweiler womöglich das
Leben. Als Angehöriger einer kleinen Nation hatte er schon früh das Talent, fremde
Sprachen zu erlernen, genutzt, und als der Lager-Arzt merkt, dass dieser Häftling sich
nicht nur mit allen Slawen, sondern auch mit Italienern und Franzosen unterhalten
kann und sogar die deutschen Anweisungen versteht, macht er ihn zu seinem
Gehilfen.
Dem Konzentrationslager entronnen, hat sich Pahor nur langsam damit abgefunden,
überlebt zu haben. Die schmerzhafte Rückkehr ins Leben ist das Thema seines
grandiosen Romans Der Kampf mit dem Frühling, den er als Vierzigjähriger schrieb.
Als der Roman um die Welt ging und 1997 auch im deutschen Sprachraum
respektvolle Aufnahme fand, war sein Verfasser bereits über achtzig. Die verspätete
Resonanz hängt damit zusammen, dass Pahor, der Überlebende, 1945 nach Triest
zurückkehrte. Dort aber war mit dem Faschismus längst nicht auch der nationale
Dünkel besiegt worden. Vielmehr hat sich an der schändlichen Ignoranz, mit der das
italienische Triest die slowenische Bevölkerung der Stadt und der Region schon
immer abzuweisen pflegte, bis heute nicht viel geändert. Daher mussten auch die
Bücher des Triestiners Pahor jenseits der Grenze, in Slowenien, erscheinen, von wo
bekanntlich selbst Literatur von Weltrang kaum je der Welt zu Kenntnis gelangt. Wie
Der Kampf mit dem Frühling ist auch Nekropolis nicht über das nahe Italien, sondern
auf dem Umweg über die USA und Frankreich, wo Pahor mittlerweile im Range eines
Primo Levi steht, zu uns gekommen.
Die Lektüre dieses Buches, das gestochen scharfe, unvergessliche Bilder des
Schreckens bietet, würde man sich gerne reinen Gewissens ersparen dürfen. Aber
auch wer glaubt, sich bereits ausreichend viele Studien, Berichte, Romane über die
Welt der Konzentrationslager zugemutet zu haben, wird feststellen, dass es genau
dieses eine Buch war, das ihm bisher gefehlt hat.
(Von Karl-Markus Gauß - DER STANDARD, Print, Sa./So. 17./18.11.2001)
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