Da passt im Grunde genommen gar nichts zusammen: Auf der einen Seite herrscht Jubel über die ersten allgemeinen und freien Parlamentswahlen, auf der anderen Seite müssen Wähler aus Sicherheitsgründen von Soldaten in Panzerwägen zu den Abstimmungslokalen gebracht werden. Auf der einen Seite lobt der Westen den ruhigen Wahlverlauf als "Zeugnis großer demokratischer Reife" der Wähler, andererseits lässt der Westen nicht zu, dass die derart Hochgelobten ihr politisches Schicksal selbst in die Hand nehmen. Im Kosovo stehen solche Widersprüchlichkeiten auch zwei Jahre nach Kriegsende noch immer auf der Tagesordnung - mehr noch, sie werden fast schon als normal hingenommen: Hauptsache, es wird nicht mehr geschossen. Immer noch ist das Land tief gespalten, Hass regiert im Protektorat der Vereinten Nationen, nur mühselig übertüncht vom offiziell breitgewalzten Streben nach Verständigung und Integration. Albanische Politiker wie der Ex-Guerilla-Kommandant Hashim Tha¸ci können sogar schon laut "multikulturell" und "serbisch" sagen, ohne knallrot zu werden und die Faust zu ballen. Wenn diese Lippenbekenntnisse allerdings konkretisiert werden sollen, legt sich der alte Kämpfer Tha¸ci mit Sicherheit so quer wie ein Grenzbalken. Doch die Kosovaren sind gewohnt, dass in ihrem kleinen Land nichts wirklich so ist, wie es den ersten Anschein hat. Sie kennen die Technik der kleinen Schritte. Schon im Jahr 1991 hatten die Kosovo-Albaner ihren Volkshelden Ibrahim Rugova zum Präsidenten gewählt, als Slobodan Milosevic dem Kosovo seine Autonomie genommen hatte. Rugova war ein Präsident ohne Land, was damals allerdings niemanden zu stören schien. Jetzt feiert gerade der unscheinbare, meist leicht überfordert wirkende Rugova ein strahlendes Comeback: Seine Partei, die Demokratische Liga, gewann die Parlamentswahlen mit haushohem Vorsprung. Rugova kann sich nun erstmals als von Serben und Albanern legitimierter Wahlsieger ausgeben. Und doch bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück: Wie einst Rugova ein Präsident ohne Land war, hat seine Partei heute die Mehrheit in einem machtlosen Parlament. Das ausschließliche Sagen im Kosovo hat nach wie vor die UNO, und sie wird die Macht nicht so schnell abgeben, obwohl die Kritik an ihrer Ineffizienz im Kosovo immer lauter wird. Und Hans Haekkerup, oberster UN-Verwalter des Kosovo, verhält sich nicht gerade so, als ob er täglich um das Vertrauen der ihm Anvertrauten rittern müsste. Dass der Däne mit gesamter Familie in Pristina einrückte, wurde noch hingenommen; dass der Exaußenminister aber nach eigenen Angaben "jede freie Minute" mit seinem Sohn spielen muss, zieht vielleicht bei westlichen Illustrierten, wird aber im katastrophengebeutelten Kosovo eher mit Befremden aufgenommen. Der Unmut gegen die UNO wächst. Die Albaner haben, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit und im krassen Gegensatz zu den Serben, am Wochenende nur für eines gestimmt: für ihre Unabhängigkeit und damit in weiterer Folge für den Abzug der UNO. Dass das Leben im Kosovo nach einer Machtübergabe an die Albaner besser würde, glauben diese wahrscheinlich nicht einmal selbst. Die Parteien sind orientierungslose Gruppen ohne Programme und getragen von volltönendem Befreiungspathos. Die siegreiche Liga von Rugova käme in ernste Schwierigkeiten, müsste sie sich festlegen, bei wem sie im Ausland die Hand aufhalten soll: bei der Sozialistischen Internationale oder der Europäischen Volkspartei. So weit sind die Parteien im Kosovo noch nicht. Trotzdem führt kein Weg an einer langsamen Machtübergabe vorbei, die Kompetenzen zwischen UN-Verwaltung und kosovarischen Politstrukturen müssen sich ändern. Mit wachsender Eigenverantwortung werden die Kosovaren beweisen müssen, ob sie tatsächlich "große demokratische Reife" erlangt haben. (DER STANDARD, Print, 19.11.2001)