"Die Debatte über den 11. September geht in die falsche Richtung", erklärt Amartya Sen. Die Verantwortung dafür "tragen jene, die die Terrorakte als Zeichen eines Zusammenpralls der Kulturen sehen wollen", stellt der in Großbritannien und den USA lehrende Wirtschaftsnobelpreisträger gegenüber dem Standard in Neu-Delhi fest. Sen, der sich für eine "Ökonomie für den Menschen" ebenso einsetzt wie für Konfliktlösung, zählt zu den entschiedensten Gegnern der Thesen von Samuel Huntington. Fehlgeleitet ist nach Ansicht Sens nicht nur, wer die Vorstellung eines Zusammenpralls der Kulturen befürwortet. In die Falle gegangen sei jeder, der allein die Frage stelle, ob Zivilisationen in Konfrontation miteinander geraten müssen. Denn wer so raisonniere, habe bereits die Grundbegriffe Huntingtons akzeptiert und bewege sich innerhalb derselben Denkkategorien. "Das Problem liegt darin, die Menschheit überhaupt in klar umrissene und als ,Kulturen‘ definierte Einheiten aufspalten zu wollen." Sen beklagt, dass die Debatten nach dem 11. September sich "weg vom Thema Terrorismus hin auf das des Islam verlagert haben". So schlimm die Angriffe gewesen seien, Terror habe es auch davor gegeben, politisch ebenso wie sozial motivierten und häufig noch religiös verbrämten. Der "Terror" hätte das Thema sein und bleiben müssen, ohne das Adjektiv "islamisch". Wenn der britische Premier Tony Blair und US-Präsident George Bush nun seit Wochen wiederholen, dass der Kampf gegen den Terrorismus kein Krieg gegen "die islamische Welt" sei, dann kann Sen nur sagen: "Darum geht es so wenig wie um die Überlegung, ob der Islam nun eine friedliche Religion ist oder nicht." Diese Art der Fragestellung allein belege, dass man die Täter zuerst als Angehörige der "islamischen Welt" und erst danach als Terroristen betrachte. Wie falsch es sei, die Menschheit nach einem einzigen, "angeblich" vorrangigen Klassifikationsschema einzuordnen, kann Sen am Beispiel des Subkontinents erläutern, wo er selbst geboren wurde. "Indien als Hindu-Zivilisation zu benennen bedeutet, die große Rolle der Muslime in der Geschichte des Landes zu ignorieren. Noch dazu leben heute in Indien etwa so viele Muslime wie in dem eigens für die Muslime geschaffenen Pakistan." Oder der ursprüngliche Ostteil Pakistans, der sich 1971 als neuer Staat Bangladesch loslöste: "Die bengalische Identität war stärker als die religiöse Verbindung mit den muslimischen Brüdern im übrigen Pakistan." "Die verarmte Sicht der Welt als Zivilisationsblöcke" ist für Sen somit "mehr als nur ein erkenntnistheoretischer Fehler. Sie stellt eine große politische Gefahr dar und macht Konflikte weitaus wahrscheinlicher." Die Hoffnung auf Frieden liegt seiner Ansicht nach in dem Bewusstsein, wie "unterschiedlich verschieden" Menschen sind, sodass sie eben nicht "entlang irgendeiner Bruchlinie klassifiziert werden können." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. 11. 2001)