Sie konnte ihr Ingolstadt kaum verlassen, gefangen in Biografie und Unglück. Daraus entwickelte Marielouise Fleißer, deren 100. Geburtstag heuer gefeiert wird, ein Dramen- und Prosawerk, das singulär und unbeugsam im Jahrhundert steht.

Richard Reichensperger

Zwei Jahre vor ihrer Geburt am 23. 11. 1901 war der Zwillingsbruder ihrer Schwester Anny gestorben, und ihr Vater, Eisenwarenhändler und Schmied in Ingolstadt, tröstete die verzweifelte Mutter eisern: "Sei still, ich mache dir wieder einen Buben."

Das war dann Marielouise Fleißer. Die mit dem falschen Geschlecht. Die, der lebenslang von mächtigen Kunst-Männern (die sie sucht) immer gesagt werden wird, dass sie anders sein soll. Gegen die sie anrennt: Sie liebte ihren Vater, aber durchbrach, sobald sie 1920 zum Studium nach München gegangen war, sein Gesetz. Sie liebte die Boheme, die sie in München kennen lernte, sie unterwarf sich ihr, aber nur, um dann zu rebellieren, zuerst gegen Lion Feuchtwanger ("Er machte ein Gesicht wie eine Mücke": Die Ziege, 1926), der sie mit Bertolt Brecht bekannt machte. Der las ein frühes Stück von ihr, in das sie ihre Kleinstadt-und Internatserfahrungen eingebrannt hatte, Die Fußwaschung (1924), und versprach, sich dafür in Berlin einzusetzen, aber erst nach der dortigen Uraufführung seines Baal.

Marielouise Fleißer "aus Ingolstadt", wie sie alle frühen Texte untertitelte, geriet so tatsächlich nach Berlin, ihr Stück, ungefragt in Fegefeuer in Ingolstadt umbenannt, war ein Erfolg. Alfred Kerr lobte, "vorausgesetzt, dass es sie gibt und es nicht ein Pseudonym für Brecht ist". Nein, "Fleißer" war kein Pseudonym für Brecht. Sie war die großartigste Dichterin, die eine Kleinstadt je hervorbrachte (während sie in Brecht zu Recht den totalen Großstädter erkannte). Sie litt darunter, dass er ihre Pioniere in Ingolstadt 1929 durch Politisierung zu einem Skandal machte, und sie litt, dass er sie wegschickte. - Vierzig Jahre später notierte sie dann aber endlich einmal selbstsicher: "Meine Geschichten sind viel besser als die seinigen." Stimmt.

Sie, die bis zu ihrer sensationellen Wiederentdeckung durch R. W. Fassbinder, F. X. Kroetz und Martin Sperr 1968 immer die an ihrer Schreibarbeit gehinderte, von ihrem Ehemann zur Trafikantin in Ingolstadt degradierte, gefesselte Frau war, sie, das hässliche Entlein aus der Provinz: Sie hat unterschwellig höchst feministische Geschichten geschrieben, voller verstümmelter Hoffnungen (wie später Hertha Kräftner), so etwa: "Das Mädchen war sehr schüchtern, hauptsächlich darum ging es ihm schlecht"; oder: "Ein Mädchen lebte allzu ernsthaft in sich hinein, und jeden Tag tat es sich was anderes an" (Ein Pfund Oran- gen). Und auch die Männer-(Selbst-)Idealisierung, der sie im Leben selbst verfiel, entlarvte sie in ihrer knappen Prosa: "Er verlangt, dass sie eine Frau ist, die sich für ihre Erkenntnisse einsetzt. Ihre Erkenntnis soll sein, dass er unter den Lebewesen ein einmaliges entscheidendes Phänomen ist, dass sie ganz in seinen Schatten treten muss."

Marielouise Fleißer, die 1974 in München starb und nie davor wirklich, nämlich in Freiheit, gelebt hatte ("Das Leben ist nicht mütterlich", so in einem Brief 1964), trat als Dramatikerin mit ihren Sätzen aus allen Schatten. Auch da wusste sie noch mehr: "Wenn der bloße Kampf ein Drama wäre, hätten schon viele Frauen Dramen geschrieben."

(DER STANDARD, Sa./So., 24./25.11.2001)