Die Entstehung von Krebs ist im Prinzip keine große Sache. Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen: Eine Zelle glaubt aufgrund falscher Informationen, sich teilen zu müssen. "An sich kein Problem", meint die Wiener Tumorbiologin Christa Cerni, solange sie von ihren Nachbarzellen "in Schach gehalten" würde. Irgendwann aber fehle "die Kommunikation mit der Nachbarin" und die Reparaturmechanismen des Systems funktionierten nicht mehr richtig. Die Zelle sei isoliert, sie könne sich nur wieder und wieder teilen, um das Gewebe, von dem sie glaube, es sei verloren gegangen (etwa bei Verletzungen an der Haut durch Sonnenbrand), neu aufzufüllen. Krebs entstünde, so wisse man heute, schlicht durch Kommunikationsverlust. Was im Inneren des Körpers so dramatische Auswirkungen haben kann, findet im Äußeren seit geraumer Zeit seine Entsprechung. Cernis Ausführungen, vorgetragen im Rahmen der Bad Ischler Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Psychoonkologie korrespondieren in Grundzügen mit dem Dilemma, das das moderne Gesundheitswesen kennzeichnet: Der technisch einwandfrei funktionierende Gesundheitsapparat droht an der fehlenden Kommunikation zwischen ihren wichtigsten Zellen, Arzt und Patient, zu zerbrechen. Zwei, die täglich miteinander zu tun haben, haben verlernt, miteinander zu sprechen. Gerhard Schwarz, Philosoph und Konfliktforscher, weiß davon ein leidvolles Lied zu singen. Vor sechs Jahren wurde er mit der Diagnose Prostatakrebs konfrontiert. Sein behandelnder Arzt erklärte ihm vorweg, er brauche sich keine Sorgen zu machen, schließlich sei er Klassepatient, ein geeignetes Spital würde sich somit leicht finden. Allerdings müsse man, fuhr der Mediziner fort, "sofort operieren". In zwei Jahren bildeten sich sonst Metastasen, und in fünf Jahren sei der Patient tot. Er habe es, vermeldet der "kreuz & quer"-Diskussionsleiter, auch ohne Operation "zunächst einmal überlebt". Die Folgen, die aus einer solchen Situation beispielhaft entstehen, sind absehbar. Der Patient schlittert geradewegs in eine Vertrauenskrise zum Arzt. Er klagt über ein gefühlloses, inhumanes Medizinsystem, das auf die subjektiven seelischen Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt und dem "die Sprache des Leids fremd ist", wie der Kommunikationswissenschafter Maximilian Gottschlich im Gespräch mit dem STANDARD erklärt. Gottschlich, Autor des Buches Sprachloses Leid (Springer Verlag) bezeichnet sich selbst als "Wanderprediger" in Sachen Arzt-Patienten-Verständigung und diagnostiziert die Mängel der Beziehung: Von Ärzten würde seelisches Leid entweder gar nicht oder inadäquat wahrgenommen. "Hightech-Medizin ist stumme Medizin." Der Hoffnungsträger Internet, der aus unselbstständigen Kranken mündige Patienten machen soll, erweise sich so gesehen als Trugschluss: Mit seinem Wissen erkaufe sich der Patient allenfalls "die Bereitschaft des Arztes, auch Wissen preiszugeben", meint Gottschlich. Allerdings sei das bloße Sammeln von Information, "ohne zu wissen, was es bedeutet für ihn in seiner konkreten Situation", nutzlos. Es brauche einen "Wissensnavigator", und diese Aufgabe könne einzig und allein der Arzt übernehmen. Darüber hinaus sei der mündige Patient für den Arzt eine "doppelte Bedrohung": "Je mehr der Patient weiß, desto eher erkennt er Fehlermöglichkeiten. Je mehr Fehlermöglichkeiten, desto weniger das Vertrauen. Je weniger Vertrauen, desto skeptischer wird er dem Arzt gegenüber. Je mehr Skepsis, desto mehr fühlt sich der Arzt infrage gestellt, desto unsicherer wird die Beziehung. Der Arzt ist verunsichert und der Patient auch." Dies sei, schlussfolgert Gottschlich, "eine denkbar ungünstige Ausgangssituation für Heilungseffekte." "Vier Minuten und 36 Sekunden", errechnete die Süddeutsche Zeitung, habe ein Arzt im Durchschnitt Zeit, die Diagnose Krebs an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. "Wenn man damit nicht auskommt, ist man ineffizient", urteilt Gottschlich. Bei Spitalsvisiten habe der Kranke ganze 40 Sekunden Zeit, eine Frage zu artikulieren. Dass darunter auch Ärzte leiden, bestreitet der Kommunikationswissenschafter nicht. Die Zahlen sprächen für sich, so sei etwa die Selbstmordrate bei österreichischen Ärzten um 50 Prozent und bei Ärztinnen um 250 Prozent höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Umso wichtiger sei unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen eine effiziente Betreuung im Sinne von empathischer Kommunikation. "Wissen, das die Gefühlsebene mit einbezieht", fordert Gottschlich. Der Arzt müsse erkennen, dass er selbst Patient ist, dass er im anderen seinen eigenen "verschütteten Patienten" sieht. Erst auf Basis der Einsicht, dass es eine "Solidarität der Verletzten" gebe, sei Mitgefühl möglich. An eine Analogie zwischen Zellen und Menschen will hingegen der Philosoph Gerhard Schwarz nicht glauben. Seine Theorie zur Entstehung von bösartigen Erkrankungen beruht auf der Konrad Lorenzschen Idee von der "Verhausschweinung" des Menschen. "Wir leben in einem Stadium der Zivilisation, das wir nicht gewöhnt sind." Überall dort, wo der Mensch der "Verhausschweinung" unterliege, müssten die Systeme zwangsläufig entarten, meint Schwarz. Dass der Vergleich hinkt, belegen die Fakten ohnedies. Tagtäglich produziere der menschliche Organismus 10 Zellen, in einem Menschenleben komme man, rechnet Tumorbiologin Cerni, "auf 2000 bis 3000 Kilo." Die Vorgänge im Inneren unseres Körpers seien somit beruhigenderweise ungleich fehlerloser als außerhalb. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 24./25. 11. 2001)