Ob mit oder ohne Mur-Insel: Graz ist Europas Kulturhauptstadt 2003. Wie weit Graz diesem Ruf gerecht wird, liegt weniger an der Fassade des viel diskutierten Programms, sondern an der kaum noch diskutierten kulturpolitischen Physiognomie dieser Stadt.
von Peter Vujica
Als Stätte der Erstaufführung der Salome von Richard Strauss fand Thomas Mann die Stadt Graz als Schauplatz explosiver Kunstereignisse in seinem Musikroman Doktor Faustus der Erwähnung wert. Im Jahr 1970 hat Darius Milhaud dieser Stadt seine Musique pour Graz gewidmet. Synchron etablierte sich Graz als "geheime Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur". Heuer darf man sich in der Mur-Metropole zwar darüber freuen, in der vergangenen Saison im Opernhaus des Jahres gesessen zu sein, doch die Stadt selbst gilt vorderhand einmal laut Economist als Knotenpunkt des Drogenhandels im südlichen Europa. Ungefähr seit dieser Zeit ist den Grazer Stadtvätern nach Helmut Strobls gesundheitsbedingtem Rücktritt als Kulturstadtrat - Kulturhauptstadt hin, Kulturhauptstadt her - Kunst und Kultur kein eigenes Ressort mehr wert. Vielmehr erhoffte man sich durch deren Fusion mit dem Finanzressort besondere Vorteile. Für einen Finanzstadtrat, und wäre er der größte aller vorstellbaren Musenfreunde, gelten allerdings andere Prioritäten als die Förderung der Künste. Erst recht für Siegfried Nagl, dem - bedingt durch die epidemische Sparwut - die Mittel für das Dringendste fehlen. Gerade in solchen Situationen bedarf es einer kompetenten Persönlichkeit, die unablässig nicht nur die Interessen der Programmmacher für das Kulturjahr, sondern auch jene der in dieser Stadt (immer noch) ansässigen Künstler und Veranstalter vertritt. Und dem nicht nur eine möglichst dichte Programmabfolge ein Anliegen ist, sondern das ästhetische und funktionelle Bild, mit dem sich diese Stadt 2003 darstellen wird. Was den internationalen Anstrom auf Kulturhauptstädte anlangt, sollte man sich keine allzu großen Illusionen machen. Erfahrungsgemäß hält er sich unabhängig von der Attraktivität der gebotenen Programme in Grenzen. Es wäre daher kulturpolitisch falsch, den Auftrag für die Kulturhauptstadt Graz in nichts anderem als in der Abhaltung einer über das ganze Jahr perpetuierten Mischung aus Styriarte und steirischem herbst zu sehen. Schließlich erhielt Graz nicht wegen seines Programms den Zuschlag, sondern wegen seines Rufes als Stadt oftmaliger und spektakulärer künstlerischer Erneuerung. Mittel erforderlich

Die Grazer Konzertveranstalter müssen durch die Bereitstellung zusätzlicher Mittel stimuliert werden, die geradezu labyrinthische Musikgeschichte dieser Stadt zu spiegeln. Die Grazer Oper dürfte nicht bloß Schauplatz eines sicher interessanten Gastspiels aus Petersburg werden. Sie müsste Gelegenheit, dramaturgische Ambition und vor allem die Mittel haben, ihre Funktion als Sprungbrett für internationale Karrieren und Ort bedeutsamer Uraufführungen (Krenek, Prokofjew, Penderecki) zu dokumentieren oder gar fortzusetzen. Dies alles und erst recht eine markante Gesamtpräsentation des Forum Stadtpark sollte als stabiles Fundament und mitunter auch als ranggleiche Ergänzung des offiziellen Programms dienen. Stabilität und Rang kosten Geld. Noch mehr aber das Allerwichtigste: die Einbindung junger und jüngster künstlerischer Initiativen, denen man auch recht bald grünes Licht zur Vorbereitung geben müsste. Erst eine solche Gesamtaktivierung der Grazer Kunst szene rechtfertigt das offizielle Programm und befreit es - wie immer sein Inhalt sich letztlich gerieren wird - vom Odium spätbürgerlichen Gepränges nach außen hin, mit dem zumindest temporär vom innerfamiliären Elend abgelenkt werden soll. Doch nicht einmal dann ist die Aufgabe eines ohnedies nicht vorhandenen Grazer Kulturpolitikers im Hinblick auf 2003 zur Gänze erfüllt. Denn längst bedeuten Kunst und Kultur nicht mehr allein, nette Dinge zu veranstalten. Kultur ist alles, die Stadt selbst wird zum Programm. Dieses läuft aber schon und schreit zum Teil nach Veränderung. Eine Stadt mit einer Westeinfahrt, wie Graz eine hat, darf sich eigentlich nicht Kulturhauptstadt nennen. Zumal die grünen Hinweistafeln, die an den Zufahrten die Kulturstadt ankündigen, ohnedies wie Warnschilder wirken. Reduziert sich das Programm Graz also auf das Offizielle, hätte zum Abschluss wieder Thomas Mann das Wort: In seinen Buddenbrooks spricht er von Sternen, deren Licht wir zwar noch sehen, die aber schon längst erloschen sind. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.11. 2001)