Nun drückt sich in dem Bedürfnis nach literarischer Besitzstandswahrung ein Unbehagen aus. Literatur, so ihre Autorität nicht von der Annahme einer blinden Offenbarung zehrt, webt kraft der Verwendung sprachlicher Zeichen an einem hauchfeinen Netz von Verweisen. Ihre Zeichenlogik gründet auf Erweiterung: Schon um das Verhältnis von einem Text zu einem anderen zu bestimmen, bedarf derjenige, welcher die Relation verstehend herstellt, eines weiteren Textes: Sein Verstehen ist dann jener Text, um den sich auch der Kanon entsprechend erweitert.
Stilles Wuchern
Die wertschätzende Anteilnahme an der Literatur steht somit vor dem Dilemma, den ihr lieben Gegenstand nach allen Seiten bedrohlich auswachsen zu sehen. Tatsächlich wird der Leser von "Madame Bovary" nur dann Genuss erlangen, wenn er sich in Balzacs "Menschlicher Komödie bereits vorher verstehend umgetan hat - oder wenn er wenigstens rhetorisch gelobt, es im Herbst seines Lebens, wenn ihn die Enkel umschmeicheln, auf der Ofenbank sitzend zu tun.
Andernfalls dient die Festschreibung eines Kanons nur der impliziten Konkurrenzlogik: einer auf Wettbewerb gnadenlos gegründeten Wissensgesellschaft. Als Kulturtechniker huldigt der Leser ausnahmslos wichtiger Bücher den Geboten von Training und Effizienz: Während der Computer die angeblich unüberschaubare Menge an Wissen binär tranchiert - werden wir immer schon alles gewusst haben. Für die Pracht der Poesie ist es dann schon zu spät.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.11. 2001)