Welt
Alle Macht der Wissenschaft?
Oder: Forschung ist gut, Politik ist besser. Eine Erwiderung auf die Thesen von EU-Agrarkommissar Franz Fischler zur Zukunftsfähigkeit der Wissenschaft. (Standard, 19. 11.)
Franz Fischler hat an dieser Stelle "grünes Licht für die Forschung" gefordert und zu mehr Verständnis für und mehr Dialog mit den Forschern aufgerufen, da ein großer Teil der Bevölkerung seiner Meinung nach die Wissenschafter als Zauberlehrlinge denunziere, sich vor "Frankenstein-Food" ängstige und generell dem technischen Fortschritt mit Misstrauen gegenüberstehe.
Fischlers Plädoyer für die Forschung liest sich zunächst als Selbstverständlichkeit. Die Forschung ist in unserer Gesellschaft aus gutem Grund frei, und nach dem Motto "Man wird ja noch fragen dürfen" sollen Wissenschafter innerhalb bestimmter ethischer Grenzen auch die Möglichkeit haben, ihrem Forscherdrang nachzukommen.
Zugleich aber drängt sich der Verdacht auf, dass mit dem Appell des EU-Kommissars ein Trend beschleunigt werden soll, der darauf zielt, angesichts der wachsenden Komplexität der Materie (siehe Gentechnik) dringend zu treffende politische Entscheidungen in die Hände einer angeblich objektiven "Wahrheitsmaschine" zu legen.
Sein Ruf nach mehr Flexibiliät und Pragmatismus in der Forschung ist in letzter Konsequenz ein Hilferuf der Politik, die sich mehr und mehr als entscheidungsunfähig erfährt und in der Wissenschaft ihre historische Thronfolgerin auszumachen scheint: Politik reduziert sich auf bloße Administration, die Entscheidungen aber fällen mehr und mehr die Wissenschafter/innen:
Erst diesen Sommer etwa präsentierten Fischlers Kollegen Byrne und Wallström neue Vorschläge für die gesetzliche Regulierung neuartiger Lebens- und Futtermittel ("Novel Food/Feed Proposal"), wonach in Zukunft Entscheidungen über Marktzulassungen für neue Gentechpflanzen nur noch von einem zentralen "Wissenschaftlichen Komitee" getroffen werden, während den einzelstaatlichen Behörden nicht mehr als "beratende Funktion" zukommt.
Nationalstaatliche Verbote für einzelne Gentechprodukte sind dann nicht mehr möglich, wenn erst einmal die mächtigen Wissenschafter ihr Urteil über ein Produkt gefällt haben. Der Einfluss des Europäischen Parlaments ist in diesen Belangen ohnehin gleich null.
Gleiches ist etwa im Rahmen der WTO zu beobachten, wo Staaten keine politischen Entscheidungen mehr für oder gegen eine bestimmte Produktionsweise treffen dürfen, wenn nicht die Wissenschaft als zentrale Objektivierungsinstanz ihren Sanktus dazu gegeben hat. Als wüsste man nicht spätestens seit Foucault, Lyotard, aber auch weniger verdächtigen Postmodernisten wie Rorty oder Sabatier, dass diese Sehnsucht nach der objektiven Wahrheit eine Illusion ist (Untersuchungsergebnisse werden jeweils von der Fragestellung und Methodenwahl entscheidend mitgeprägt, nicht zufällig gibt es zu jeder Studie eine Gegenstudie); und als wäre nicht offensichtlich, was diese schleichende Verlagerung machtpolitischer Entscheidungen in andere, der Öffentlichkeit nicht mehr zugängliche Gremien für die "Zukunftsfähigkeit" der Demokratie bedeutet.
Gerade im Bereich der Gentechnik sind mutige politische Debatten und Entscheidungen derzeit weit dringender gefragt als die hunderttausendste Studie über irgendein Protein. Völlig ungeklärt ist etwa, wie wir die gentechnikfrei wirtschaftenden Landwirte und vor allem Biobauern vor einer ständigen Kontamination ihrer Felder mit GVO-Pollen schützen - eine rein politische Entscheidung.
Oder wie wir sicherstellen, dass es auch noch in fünfzig Jahren große, zusammenhängende biosphärische Rückzugsgebiete gibt, in denen keine von Menschen "designte" Pflanzen wachsen dürfen - vielleicht einmal eine Überlebensfrage.
Oder wie wir gewährleisten, dass Konsumenten beim Kauf von Produkten nicht nur eine wissenschaftlich begründete, sondern auch politisch-weltanschauliche Wahlfreiheit haben.
Zu glauben, dass diese Fragen von "der" Wissenschaft schlicht durch Auffinden "der" Wahrheit gelöst werden können, bedeutet, die Demokratie und das Projekt der Moderne aufs Spiel zu setzen.
Die Wissenschaft kann und muss uns helfen, die richtigen Fragen zu stellen und kreative Antworten zu finden - entscheiden müssen wir uns aber immer noch selber. Und das heißt nichts anderes, als sich endlich wieder zur Politik als dem "Terrain des Entscheidens" zu bekennen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. 11. 2001)