Taiwans Präsident Chen Shui-bian und seine Demokratische Fortschrittspartei (DPP) haben unerwartet deutlich die Parlamentswahlen für sich entschieden. Chen, der erst vor 18 Monaten als Oppositionspolitiker zum Staatspräsidenten gewählt wurde und die 50-jährige Vorherrschaft der nationalistischen Kuomintang-Partei (KMT) beendete, konnte diese jetzt auch noch auf eine Minderheitenrolle im Parlament degradieren.

Die Kuomintang fiel von 110 Sitzen auf 68 zurück. Chens Partei erhielt 21 neue Mandate. Mit 87 der 225 Sitze stellt sie die stärkste Fraktion. Vom Einbruch der Kuomintang profitierte mit 46 Sitzen auch die KMT-Abspaltung Volkspartei (PFP) unter James Soong. Zwei Drittel der 15 Millionen Wahlberechtigten auf Taiwan konnten sich unter 455 Kandidaten und fünf Parteien sowie unabhängigen Kandidaten entscheiden. Die USA priesen die Wahlen als Beispiel für "die Lebenskraft der Demokratie auf Taiwan."

Angesichts der zerstrittenen Kuomintang hatten sich Pekings Führer im Vorfeld auf Gewinne für Präsident Chens Partei eingestellt. Sie verdächtigen Chen seit seiner Amtseinführung, mit dem Expräsidenten Lee Teng-hui gemeinsam Taiwan in die Unabhängigkeit führen zu wollen. Pekings Regierung wurde gestern aber von der Höhe des Votums für Chens Partei überrascht. In den Radio- und Fernsehnachrichten durfte nicht berichtet werden. Erst am Mittwoch will das zuständige Büro beim Staatsrat die Wahlen kommentieren.

Frustrierend und ein Misserfolg für Chinas Propaganda sind auch die Gewinne der neuen Solidaritäts-Union von Taiwan (TSU), die von dem in Peking gehassten Expräsidenten Lee Teng-hui unterstützt wird. Die TSU schaffte aus dem Stand 8,5 Prozent und erhält 13 Sitze. Die von Peking politisch umworbene Neue Partei (NP), die sich für eine Pro-China-Politik in der Wiedervereinigungsfrage ausspricht, wurde dagegen abgestraft. Sie fiel von einst acht auf nur noch einen Sitz. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.12.2001)