Der Albtraum nimmt kein Ende. Das "abgrundtiefste Böse" hat es US-Vermittler Anthony Zinni genannt, der am Sonntag zum Schauplatz des Grauens in Jerusalem geführt wurde. Angesichts all dieser toten Menschen scheint es wieder einmal völlig sinnlos, ja obszön, sich auf die Genesis dieses Horrors einzulassen. So wie die eine Seite betont, dass Repressalien und Gewalt gegen Palästinenser nur Folge von deren Gewalt gegen Israelis sind, so wird heute die andere Seite in den Vordergrund stellen, dass die Attentatswelle nur logische Konsequenz der Liquidierung des Hamas-Führers Abu Hanud ist (die natürlich auch wieder ihre "Gründe" hat).
Egal. Im Licht des blutigen Sonntags ist der Unterschied zwischen den beiden Seiten, um es einmal ganz gemein und einfach auszudrücken, dass hier die viel zitierten unschuldigen Kinder Angriffsziel sind und "Kollateralschaden". Das mit der - den Terrorismus provozierenden - Asymmetrie der Kräfte zu erklären und darauf hinzuweisen, dass es ungleich mehr tote Palästinenser gibt als Israelis, mag an so einem Tag tun, wer Herz und Magen dazu hat.
Und jetzt? Was wird Israel diesmal tun, ist das Ende Yassir Arafats und seiner Autonomiebehörde gekommen? Er zeigte mit seiner Reaktion, dass er weiß, was es geschlagen haben könnte: Seine Ausrufung des Ausnahmezustands in den Palästinensergebieten ist nicht nur eine polizeiliche, sondern auch eine politische Ergänzung von Israels totaler Abriegelung. Größer könnte die Distanzierung Arafats von den Attentaten kaum sein.
Aber wie ernst die israelische Regierung es noch nimmt, wenn der Palästinenserpräsident, dessen Land nun auch schon amerikanische Politiker auf der Zunge tragen, tatsächlich Extremisten verhaften lässt, ist unsicher. Selbst bei den Europäern hat Arafat in dieser Beziehung beinahe seine letzte Glaubwürdigkeit verloren: Die Drehtür in den palästinensischen Gefängnissen ist sprichwörtlich. Und da Fatah-Leute bei den "kleineren" Attentaten vergangene Woche bereits offen mit Djihad-Islamisten kooperiert haben, hat der in Washington weilende israelische Premier Ariel Sharon starke Argumente, wenn er US-Präsident George Bush davon überzeugen will, die Autonomiebehörde auf die Liste der Länder zu setzen, die Terrorismus unterstützen.
Umgekehrt ist diese Liste der "Länder" genau eines der Argumente, die auch im israelischen Interesse für einen Palästinenserstaat sprechen: Dann hätte die internationale Gemeinschaft ein Land, das sie völkerrechtlich in die Pflicht nehmen könnte, und eben nicht, wie jetzt, ein weitgehend entrechtetes, seiner Ressourcen (Wasser!) beraubtes Volk auf besetztem Territorium mit völkerrechtswidrigen Siedlungen, das um seine eigene Nations- und Staatswerdung kämpft.
Jede Terrorismusdebatte, das heißt, jede Debatte über das Verhältnis von Terrorismus und Widerstand der Palästinenser, hätte dann ihr logisches Ende - genauso übrigens wie die um den Hisbollah-Terrorismus nach dem Abzug der Israelis aus dem Südlibanon. In diesem Zusammenhang gibt es erste Überlegungen, ob die Hisbollah zu den zukünftigen Zielen der amerikanischen Antiterrorkampagne gehören könnte. Das wäre vor dem Abzug der Israelis undenkbar gewesen. Aber von der palästinensischen Staatsgründung sind wir weiter entfernt denn je, zuerst steht die Entscheidung über die politische Zukunft Arafats an, den die meisten Israelis in der Versenkung verschwinden sehen wollen.
Was genau sie dazu bringt zu denken, dass eine neue Garde von jüngeren Palästinensern pragmatischer und aus israelischer Sicht leichter zu handhaben wäre, ist unklar. Was sich vielleicht ändern würde, ist, dass neue palästinensische Politiker den Islamisten mehr entgegenzusetzen hätten und ihnen das Gros der von der Autonomiebehörde Enttäuschten entreißen könnten. Hoffentlich nicht durch eigene Radikalität. Denn dann stünde man erst recht wieder am Anfang. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 3.12.2001)