Hat Ariel Sharon sein eigenes Volk im Griff? Hat er seine Soldaten unter Kontrolle? Kann er sie davon abhalten, Kinder zu töten, Minen in Obstgärten zu legen und mit Panzerkugeln Flüchtlingslager zu beschießen? Kann er seine Geheimdienstkiller abhalten, ihre palästinensischen Gegner zu ermorden - oder "gezielte Tötungen" auszuführen, wie die BBC diese Exekutionen nannte, in dem feigen Bemühen, nur ja nicht die Kritik der Israelis heraufzubeschwören? Verbotene Fragen, ich weiß. Versuchen wir also, sie zu "legalisieren" . . . Die Wahrheit ist: Der palästinensisch-israelische Konflikt ist der letzte Kolonialkrieg. Die Franzosen dachten, sie hätten den letzten Kampf dieser Art ausgefochten, als sie vor langer Zeit Algerien unterwarfen. Als die Algerier dann ihre Unabhängigkeit forderten, nannten sie sie "Terroristen", schossen auf Demonstranten, folterten die Freiheitskämpfer und ermordeten - in "gezielten Hinrichtungen" - ihre Gegner. Genauso reagieren wir auf das jüngste Massaker in Israel, ganz im Sinne des State Department, von CNN, BBC und Downing Street: Arafat muss aufwachen, muss aktiv werden, endlich seine Pflicht als Polizist des Westens im Nahen Osten nachkommen. So wie Präsident Mubarak in Ägypten, König Abdullah in Jordanien und König Fahd in Saudi-Arabien ihre Pflicht für uns erfüllen, indem sie ihr Volk kontrollieren - ohne Rücksicht auf die Geschichte und das Leiden dieser Länder. Erlauben Sie mir, in aller Kürze, eine Geschichte zu erzählen. Wenige Stunden, bevor ich diesen Artikel schrieb, genau vier Stunden, nachdem der letzte Selbstmordbomber in Haifa sich und vier unschuldige Opfer in die Luft jagte, besuchte ich ein verdrecktes, von Fliegen übersätes Krankenhaus in Quetta, der Grenzstadt zu Pakistan, in dem die durch US-Bombardierungen verletzten Afghanen untergebracht sind. Inmitten eines Fliegenschwarms liegt Mahmat, Bett Nr. 12, und erzählte seine Geschichte. In diesem Krankenhaus ist von CNN- oder BBC-Kameras weit und breit nichts zu sehen. Und das wird auch in Zukunft nicht der Fall sein. Es geschah vor sechs Tagen in seinem Dorf Kasikares, als eine B-52 eine Bombe auf sein Dorf abwarf. Er schlief in einem Zimmer, seine Frau mit den Kindern im anderen. Sein Sohn Nourali starb, ebenso sein Sohn Jaber, zehn Jahre alt, Janaan, acht, Salamo, sechs, Twayir, vier, und Palwasha, das einzige Mädchen, zwei Jahre alt. "Das Flugzeug fliegt so hoch, wir haben nichts gehört, und plötzlich stürzte das Lehmdach ein", sagte Mahmat. Er gestattete mir, seine Frau Rukia, im nächsten Zimmer (Bett Nr. 13) zu besuchen. Sie wusste vom Tod ihrer Kinder nichts. Sie ist 25 und sieht aus wie 45. Das Tuch auf ihrer Stirn verleiht ihr Würde. Ihre Kinder, wie so viele Unschuldige in diesem schrecklichen Krieg für eine bessere Gesellschaft, sind Opfer, die Herr Bush und Herr Blair niemals als solche anerkennen werden. Und als ich erlebte, wie Mahmat um Geld bettelte - die Gewalt der US-Bombe hatte ihn aus den Kleidern gefegt, unter der Spitalsdecke war er nackt -, hatte ich eine schreckliche Vision: Er und sein Cousin neben ihm, sein Onkel und sein Schwager beschuldigen die USA des Mordes an ihrer Familie . . . Eines Tages, fürchte ich, wird die Wut von Mahmats Verwandten so groß sein, dass sie sich an den Vereinigten Staaten rächen - dann wird man sie Terroristen nennen, Männer der Gewalt. Die Frage ist angebracht, ob es ihren Führern gelingt, sie davon abzuhalten. Mit Bin Laden haben sie nichts gemein - "wir sind weder Taliban noch Araber", sagt Mahmat -, aber seien wir ehrlich: Haben wir das Recht, sie zu verurteilen, wenn sie zurückschlagen, nachdem die USA an ihrer Familie ein so großes Verbrechen verübten? Werden die USA aufhören, Dörfer zu bombardieren? Kann Washington seine Spezialeinheiten überzeugen, Gefangene zu beschützen? Ist die US-Regierung imstande, das eigene Volk zu kontrollieren? (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 5.12.2001)