Welt
Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz: "Märkte funktionieren anders"
Oder: Die Irrtümer der Papageien. Vom Widersinn des Geplappers über "Markttransparenz" und das Wirken der "unsichtbaren Hand" in den Köpfen mancher Finanzstrategen.
Der diesjährige Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ging an George Akerlof von der University of California in Berkeley, Michael Spence von der Stanford University und an mich für unsere Studien über die "Asymmetrie der Information". Worum geht es dabei und warum haben wir uns diesem Thema gewidmet?
Zweihundert Jahre lang orientierte sich die Wirtschaftswissenschaft an einfachen ökonomischen Modellen auf der Basis absoluter Markttransparenz - d. h., man ging davon aus, dass alle Marktteilnehmer über die gleichen, für alle zugänglichen Informationen über die relevanten Faktoren verfügen. Man wusste zwar, dass es diese absolute Markttransparenz in Wirklichkeit nicht gibt, hoffte aber, dass die realen Informationsdefizite derart geringfügig seien, dass man die Differenz zwischen Modell und Wirklichkeit vernachlässigen könne. Wir haben bewiesen, dass diese Annahme falsch ist: Selbst kleinste Informationsdefizite können tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf das Verhalten der Wirtschaft haben.
Informationsgefälle
Unsere vom Nobelpreiskomitee gewürdigte Arbeit thematisiert eine Ausformung dieser Intransparenz, die daher rührt, dass auf einem Markt unterschiedliche Personen über unterschiedliche Informationen verfügen:
Der Verkäufer eines Gebrauchtwagens etwa weiß mehr über seinen Wagen als der Käufer, jemand, der eine Versicherung abschließt, weiß mehr über sein Unfallrisiko (er weiß zum Beispiel, wie er fährt) als die Versicherung, ein Arbeitnehmer weiß mehr über seine Fähigkeiten als ein künftiger Arbeitgeber, ein Kreditnehmer mehr über seine Möglichkeiten, eine Schuld zurückzuzahlen, als der Kreditgeber. Dabei bezeichnet die "Asymmetrie von Information" nur eines von vielen Defiziten dieser Art, die allesamt weitreichende Konsequenzen haben können.
George Akerlof und ich waren in den frühen 60er-Jahren Kommilitonen am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Auf dem Lehrplan standen die damals üblichen Standardmodelle mit ihrer simplen Formelsprache `a la "Angebot gleich Nachfrage", deren Sinn uns nicht recht einsichtig war. Auf diese Weise hätte man auch einem Papagei Wirtschaftswissenschaften beibringen können, indem man ihn ständig "Angebot und Nachfrage" nachplappern lässt. Die Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Gleichung ergaben, waren jedenfalls ziemlich verblüffend: Wenn die Nachfrage nach Arbeit zum Beispiel dem Angebot entspräche, dürfte es eigentlich keine Arbeitslosigkeit geben.
Ich bin in einer Industriestadt am Südufer des Michigan-Sees - Gary, Indiana - aufgewachsen, und ich weiß, was Armut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung bedeuten. Ich habe mich für die Wirtschaftswissenschaften entschieden, weil ich die Zusammenhänge verstehen und etwas verändern wollte. Als mir dann aber Modelle beigebracht wurden, die einfach davon ausgingen, dass die Arbeitslosigkeit gar nicht existiert, erschien mir diese Herangehensweise doch etwas zweifelhaft.
Die Modelle, die wir entwickelten, konnten erklären, warum Märkte eben nicht so funktionieren, wie sie nach der Standardtheorie funktionieren sollten: warum es sie nach deren Logik vielleicht gar nicht gäbe, wie Arbeitslosigkeit entsteht, warum Kredite rationiert werden. Und sie erklärten auch, warum ökonomische Erschütterungen sich ausbreiten und noch lange nach der Beseitigung der auslösenden Störung fortwirken können.
Selbstregulierung?
Eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Arbeit betraf der Annahme von Adam Smith, der Wettbewerb führe "wie von unsichtbarer Hand geleitet" zu effektiven Resultaten. Unserer Analyse zufolge war die unsichtbare Hand nicht nur nirgends zu sehen - sie war gar nicht vorhanden oder bestenfalls die eines Greises.
Zusammen mit Bruce Greenwald von der Columbia University haben wir bewiesen, dass bestimmte Interventionen seitens des Staates in den Markt für jeden von Vorteil sein können - auch wenn der Staat mit denselben Informationsdefiziten konfrontiert ist wie die Privatwirtschaft.
Die Wirtschaftswissenschaft weiß schon lange, dass dem Markt überlassene Lösungsstrategien angesichts gewisser "Außenfaktoren" wie Luft- und Wasserverschmutzung in der Regel nicht wirken. In manchen Bereichen - etwa der schadstoffintensiven Schwerindustrie - wird zu viel produziert, in anderen - etwa im Sektor Forschung und Entwicklung - zu wenig. Was wir nachweisen konnten, war: Hat man einmal erkannt, dass Informationsdefizite bestehen - und das ist wohl offensichtlich -, dann durchschaut man auch den Entstehungszusammenhang dieser "Außenfaktoren" - und damit die Gründe, warum der Markt hier versagt.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass zu demselben Zeitpunkt, an dem zahlreiche Wissenschafter auf der ganzen Welt begannen, diese Ideen zu entwickeln und unser Verständnis von den Beschränktheiten des Marktes zu erweitern, die internationalen Wirtschaftsinstitutionen den so genannten "Washington-Konsens" durchsetzten, der auf marktwirtschaftlichem Fundamentalismus beruht und das Marktversagen ignoriert.
Diese Ignoranz führt natürlich zu Spannungen zwischen besagten Institutionen und den Ländern, die sie beraten: Die Analysen der vielen talentierten jungen Wirtschaftswissenschafter, die in den Regierungen von Entwicklungsländern tätig sind, basieren auf einem wesentlich profunderen Verständnis marktwirtschaftlicher Mechanismen als die altbackenen Ideologien und Schema-F-Modelle, von denen sich immer noch ein paar internationale Bürokraten leiten lassen.
Einige Leute haben mir vorgeworfen, dass unsere theoretische Arbeit, die das Nobelpreiskomitee gewürdigt hat, nichts mit den wirtschaftspolitischen Positionen zu tun habe, die ich bei der Weltbank in Bezug auf Ostasien, Russland oder die Entwicklungsländer im Allgemeinen vertreten habe. Irrtum. Die Regulierungsstrategie, die ich im Zusammenhang mit der Liberalisierung des Finanzmarktes vorgeschlagen habe, basiert akkurat auf der Erkenntnis vom Mythos der Markttransparenz.
Dritter Weg
Meine Überlegungen bezüglich Zahlungsunfähigkeit - dass die vom Währungsfonds in Ostasien in die Höhe getriebenen Zinssätze Firmen in den Ruin treiben, die Wechselkurse negativ beeinflussen und gleichzeitig Volkswirtschaften zerstören, wodurch die betroffenen Länder für Investoren weniger attraktiv sind - verdanken sich ebenso der "Asymmetrie von Information" wie das daraus abgeleitete gemeinschaftliche Finanzierungsmodell.
Um es ganz simpel zu formulieren: In einer Welt tatsächlicher Markttransparenz gäbe es keinen Konkurs - warum sollte man jemandem einen Kredit gewähren, wenn man weiß, dass er ihn nicht zurückzahlen kann?
Ideen können oft genauso mächtig sein wie Interessen. Wenn, wie in der Vergangenheit praktiziert, überkommene Ideologien sich mit Einzelinteressen verbünden, dann führt das dazu, dass man nur manche Interessen bedient und andere links liegen lässt. Aus der Asymmetrie der Information folgt die Asymmetrie der (markt-)wirtschaftlichen Macht.
Aufgabe des Staates wäre es nicht nur, Marktversagen zu korrigieren, sondern auch, diese Asymmetrien der Macht zu beseitigen.
Unsere Arbeit, die nun durch das Nobelpreiskomitee die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums erfahren hat, ist Teil des intellektuellen Fundaments für den Dritten Weg, der zunehmend als der einzig gangbare erachtet wird, um dem Ziel, wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, näher zu kommen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8./9. 12. 2001)