In Wien ist ein bisher unbekanntes Photoalbum aufgetaucht, in dem der Dichter seine Semmering-Gefühle visuell darstellt und exzessiv der 12jährigen Klara Panhans nachweint. Wolfgang Kos über ein altbekanntes Buch und eine luxuriös präsentierte Entdeckung.



Semmering 1912" – ein Buchtitel wie eine Parfummarke. Poesie & Marketing. Der mondäne Duft von demi-nature. Großstädter, die flanieren wie auf einem Luxusdeck oder am Graben in Wien. Alle Blickpunkte sind längst parzelliert. Auf der mit Gehsteig und Beleuchtung versehenen Hochstraße (die 30 Jahre vorher noch ein Hochweg war, über den Bergbauern ihr Vieh trieben) kann man sich wie im Bergwald fühlen – und zugleich wie in städtischem Ambiente.

In der Ferne: "Bergeswelten mit Dekoration". Auf der Mittelbühne: eine Komtesse, die über die Terrasse "schreitet, fliegt, schwebt". Oder, auf einem Hotelfenster, "ein tiefblau seidenes Gewand, sich bewegend im Morgenwinde". Es gehört einer jungen Tbc-Gefährdeten, die es beim "gestrigen Abendprunke" getragen hat. Und ganz nah: Details, die alle sehen können, die aber nur für einen "Afrikaforscher des Alltäglichen" (Anton Kuh über P.A.) als Wunder erkennbar sind – die vom Morgentau feuchte Hotelterrasse aus Beton, die roten Disteln "gleich beim Hotel", der Schnee auf dem Straßengeländer ("Ich will ihn betrachten, betrachten, betrachten, ihn mit meinem Auge stundenlang in meine Seele hineintrinken. Ich liebe den Schnee da am meisten, wo er für die Menschen unbrauchbar und gleichgültig ist."), die Schaukel, die zu exaltierten Liebesseufzern für die 12jährige Hotelierstochter Klara Panhans animiert...

Nicht nur "der Semmering" war 1912 eine hochmodische Marke, auch der Exzentriker Peter Altenberg war eine Berühmtheit, ja "der populärste Mann von Wien". So eine Rezension von 1913, in der von einem "Bilderbuch der Schönheit" zu lesen war. Der junge Oskar Maurus Fontana nannte P.A. "ein lebendiges Anekdotenbündel". Mehrere Monate lang wohnte der Poet im Panhans, wenn auch im billigsten Dachzimmer. Auf dem noblen Hotel-Briefpapier schickte der notorische Schnorrer Bettelbriefe aus. Der groteske Mann im weiten Havelock war unübersehbar, wenn er seine Runden drehte. "Jeder hat ihn gegrüßt", erzählte mir 1980 ein alter Semmeringer, "aber ausgelacht hat man ihn auch ein wenig." Schließlich habe er sich die Suppe in einem Champagnerglas servieren lassen.

Der Poet als wandernder Markenartikel? Eigentlich war Altenberg als Patient auf dem Semmering. Alkoholsucht und depressive Schübe hatten seit 1910 wiederholte Sanatoriumsaufenthalte zur Folge. Dazu kamen die pädophilen Anwandlungen. Die Semmering-Luft sollte den "dirty old man" auslüften. Dem dumpfen Brüten in der Anstalt folgten tatsächlich Phasen von Glück und Euphorie. Die gesteigerte Empfindsamkeit, die dem Buch "Semmering 1912" den besonderen Tonfall gibt (inklusive inflationärem Einsatz von Worten wie "Paradies" oder "Märchenwelt"), könnte, so vermutete einmal ein Suchtexperte, mit der Alkohol-Entziehung in unmittelbarem Konnex stehen.

Das pointillistische und sorgfältig arrangierte Kaleidoskop "Semmering 1912" zählt zu Altenbergs schönsten Büchern. Physiognomische Details des Hotellebens stehen neben famosen Naturtupfern, autobiografische Skizzen neben "Splitter" genannten Mikro-Notaten. Das bürgerliche Rund-Panorama löste sich auf in feinste Partikel, so als würde man durch ein umgedrehtes Fernrohr schauen. Das Buch, das in der Wiener Gesellschaft großen Anklang fand, ist nun – auf Basis der erweiterten vierten Auflage – in exquisiter Typografie neu erschienen – gekoppelt mit dem bibliophilen Reprint eines bisher unbekannten Albums mit 260 Bildern im Ansichtskartenformat, quasi eine visuelle Erzählvariante der schriftlichen Bild-Beschwörung. Retro-Verleger Eichberger wollte den Autor liebevoller behandeln als einst der Fischer-Verlag: er erhörte Altenbergs Protest gegen das 1913 als Vorsatzbild verwendete und mittlerweile berühmte Foto (Dichter auf Hochstraße vor Hotel Panhans) und ersetzte es durch eine winterliche Nahaufnahme.

Altenberg hat häufig Alben zusammengestellt ("in diesen Sammlungen bin ich, lebe ich, fühle ich..."), aber erst zehn, alle aus den letzten Lebensjahren, sind bisher bekannt. Einige befinden sich außerhalb Österreichs im Privatbesitz, einige – darunter das nun entdeckte – in der Wiener Stadt-und Landesbibliothek. Die genauen Umstände der Auffindung werden höflich ausgeblendet. Das Wort "Wasserschäden" gibt Vermutungen Raum. Jedenfalls sollte der sensationelle und doch irgendwie mysteriöse Fund eine Ermutigung für öffentliche Sammlungen sein, das zumeist sträflich geringe Ankaufsbudget durch Suchexpeditionen in den eigenen Depots de facto zu erhöhen.

Foto-Freak Altenberg hat nicht bloß Bild-Souvenirs aneinander gereiht und Karten emphatisch beschriftet. Die Bilder – Semmering-Motive, Dolomiten-Vues, Blumen, Porträts, junge Mädchen, Kunstreproduktionen, 17 mal Altenberg himself – ergeben spitzfindige Zusammenhänge. Für Co-Herausgeber Leo A.Lensing steht außer Zweifel, dass das Album einerseits dem assoziativen Aufbau des Buches folgt und andererseits "ein zweites Oeuvre" darstellt. Er verweist auf symbolistische Bild-Text-Konstellationen, auf die alte Chiffrierungstechnik der Blumensprache und auf sich gerade anbahnende Neuerungen wie die Foto-Collage. Vor allem die Ähnlichkeiten mit den Montage-Techniken des Kinos sind frappant. In diesem Punkt war Altenberg der Modernist unter den Wiener Dichtern. Wiederholt hat er in seinen Büchern mit Begriffen wie "Photogravur", "Moment-Photograf" oder "Blitzlicht-Wirkung" hantiert. Offenbar sah er in der Verschränkung von Visuellem und Sprachlichem die Chance, Atmosphärisches und Transfaktisches präziser fassen zu können. Heute würde er vielleicht Videoclips designen.

Das Semmering-Fotoalbum hat der Poet erst 1915/16 "komponiert", also mehr als zwei Jahre nach Erscheinen des Buches. Beklemmend wirkt, wie sehr die zwei Jahre zurückliegende Liebeswallung für das unerreichbare Kind Klara Panhans den Poeten immer noch antreibt. Klara hatte 1912 auf dem Semmering die Kreativität des Dichters entfacht, die Belästigung des Mädchens scheint aber ein Grund dafür gewesen zu sein, dass Altenberg von seinem Bruder nach dem euphorischen Monaten im Höhenkurort prompt wieder in das Sanatorium "Am Steinhof" eingewiesen wurde. 50 mal wird im Album Klaras Name ("die Heilige") genannt, eine Art Geisterbeschwörung, vielleicht auch, wie Lensing annimmt, ein Ritual des Verzichts mittels Sublimierung. Der immer wieder in die Fotos gekritzelte Schriftzug "Klara" lässt an eine zarte Zwangshandlung denken, von der im Semmering-Buch die Rede ist: "Auf das bereifte Glas eines Auslagekastens schrieb ich mit der Stahlspitze meines Bergstockes einen Mädchennamen. Welchen?! Was kümmert es euch?! Meine Seele leidet". Ein Stakkato-Albumblatt zeigt Klara gleich viermal, allerdings indirekt, in Gestalt eines Renaissance-Porträts der Heiligen Klara.

Altenberg-Biograf Andrew Barker interpretiert das retrospektive Foto-Stecken als Trauerarbeit eines alternden und vereinsamten Mannes: "Mitten im Krieg" hat Altenberg noch einmal die Friedenszeit und seine letzte Phase von Lebensgier heraufbeschworen – indem er in der Form eines privaten Albums "eine Art Paradies" reproduzierte. In der Chiffre "Semmering" waren mehrere Zeitebenen enthalten – die idealisierte ferne Kindheit, die aus dem absoluten Jetzt kommenden Momentaufnahmen entlang des "Hochwegs 1912" und die schmerzende Gewissheit, bald alles hinter sich lassen zu müssen.

Leo A. Lensing und Andrew Barker (Hg.), Peter Altenberg, Semmering 1912, Ein altbekanntes Buch und ein neuentdecktes Photoalbum.
Bis 31.1.2002 öS 2500,-/EURO 181,70/(danach EURO 218)/364 Seiten, Werner Eichbauer Verlag, Wien 2002. Ab 12. Dezember im Handel.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8./9. 12. 2001)