Mensch
Schlaf: Wesentlich für Gedächtnisbildung des Organismus
Lübecker Wissenschaftler untersuchen Einflüsse auf Psyche und Immunsystem
Lübeck - Der außerordentlichen Bedeutung des Schlafs auf
den gesamten Organismus sind Lübecker Wissenschafter auf der Spur. In
einem nach eigenen Angaben weltweit einzigartigen interdisziplinären
Projekt untersuchen derzeit Psychiater, Psychologen, Neurologen,
Internisten, Immunologen und Mathematiker der Medizinischen
Universität die Mechanismen der Gedächtnisbildung im Schlaf.
Die Forscher sind davon überzeugt, dass während des Schlafes all
das, was zuvor erfahren wurde, noch einmal verarbeitet wird. In der
Wachphase müssten vielfältigste, rasch wechselnde berufliche und
soziale Situationen durch adäquates Verhalten gemeistert werden. Je
nach körperlicher Aktivität, Nahrungsaufnahme und Energiereserven
müsse sich der Stoffwechsel ständig neu einstellen.
Organismus mit Viren, Bakterien und Mikroorganismen konfrontiert
Zusätzlich werde der Organismus mit unterschiedlichsten Viren,
Bakterien und Mikroorganismen konfrontiert, die unmittelbar
immunologische Abwehrreaktionen hervorriefen. Hier sei schnelles
Reagieren gefragt. Erst anschließend würden diese neu gewonnenen
Reaktionen "abgespeichert", damit sie für ähnlich gelagerte
Situationen abrufbereit seien.
Für diese "Gedächtnisbildung des Organismus" sei der Schlaf
unerlässlich, denn das Gedächtnis bilde sich nur in einem Zustand, in
dem die Belastung aller körpereigenen Systeme durch Stress auf ein
Minimum reduziert sei. Diese Situation sei nur während des Schlafes
gegeben, sagte Forschungsleiter Jan Born.
Test mit Hepatitis A Geimpften
Unter anderem untersuchten die Experten in ersten Tests Probanden,
die gegen Hepatitis A geimpft wurden. Während die Hälfte der Gruppe
in der Nacht nach der Impfung normal geschlafen habe, seien die
anderen wach geblieben. Nach vier Wochen hätten sich bei jenen, die
schlafen konnten, doppelt so viele Antikörper gegen den
Hepatitis-Erreger gebildet wie bei den Testpersonen, die wach
geblieben seien.
Ähnlich verhält es sich mit dem Stoffwechsel-Gedächtnis: Selbst
bei jungen Testpersonen, die eine Woche mit nur vier Stunden Schlaf
pro Tag auskommen mussten, entgleiste den Angaben zufolge der
Stoffwechsel deutlich. "Der Blutzuckerspiegel konnte vom Organismus
nicht mehr ausreichend stabilisiert werden, die Probanden hatten eine
erhöhte Insulinresistenz, einen erhöhten Blutdruck und einen erhöhten
Spiegel des Stresshormons Cortisol", sagte Born.
Wichtig zum Erlernen motorischer Fähigkeiten
Vor allem beim Erlernen motorischer Fähigkeiten sei ausreichender
Schlaf notwendig, betonte der Wissenschaftler. Erste Versuche hätten
gezeigt, dass bei den Probanden, die in der ersten Nacht nach den
Lerntests geschlafen hätten, eine Woche später ein bis zu zehnfach
höherer Lerneffekt festgestellt worden sei als bei denen, die in der
ersten Nacht wach geblieben seien.
Born hält den Stress für einen entscheidenden Faktor bei der
Gedächtnisbildung. Bei Stress jeder Art werde immer Cortisol
freigesetzt. Ein niedriger nächtlicher Cortisolspiegel sei jedoch
Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Gedächtnisbildung im Schlaf
stattfinden könne. Nächtlicher Stress zerstöre wahrscheinlich die
Gedächtnisfunktionen des Schlafs, vermutet der Professor.
Das heiße jedoch nicht, dass man sich nicht mehr aufregen sollte.
"Wir sind dafür geschaffen, uns zu verausgaben", sagte Born.
Voraussetzung sei aber, dass den Stress vor dem Schlafengehen
abgebaut werde. Schlaf sollte so etwas wie die Reset-Taste am PC
sein. Der Stress werde erst dann schädlich, wenn der Organismus nicht
mehr in der Lage sei, das Stresssystem herunter zu fahren, sagte
Born.(APA/AP)