Von Herbert Hrachovec
Lessings Ringparabel ist ein hilfreicher Bezugspunkt in der Auseinandersetzung über Absolutheitsansprüche. Es war einmal ein Ring, der von selbst Ansehen und Macht verlieh, doch heute sind mehrere nicht unterscheidbare Exemplare im Umlauf. Lessing empfiehlt deshalb den Verzicht auf die Suche nach dem Original. Die Zeit möge entscheiden. Religiöser Fundamentalismus ist eine pointierte Gegenreaktion. Die Parabel löst das Problem des richtigen Lebens, indem sie den Rückgriff auf Ursprünge blockiert und den Fortschritt der Menschheit anvisiert. Aus integralistischer Sicht ist das ein Ablenkungsmanöver. Das Weichzeichnen ideologischer Differenzen ist eine bequeme Art, sich der Festlegung auf die eigene Herkunft zu entziehen. Beide Einstellungen existieren in historischen Konstellationen. Der Islamismus erhebt seinen Einspruch gegen die Ungläubigkeit im Rahmen der post-kolonialistischen Hegemonie westlicher Wirtschafts-und Militärmacht. Er ist keine traditionelle Doktrin, sondern eine Antwort auf die Dynamik des säkularistischen Erfolgsprinzips der europäischen Neuzeit. Fortschritt sollte für alle Menschen gelten, de facto reicht er nur für wenige. Im Einflussbereich von Marokko bis Pakistan treffen Königshäuser und Staatsparteien, die teilweise am neo-liberalistischen Waren- und Gedankenaustausch teilnehmen, auf islamisch geprägten Widerstand. Er greift auf die religiöse Tradition zurück, gewinnt seine Schärfe aber aus einer aktuellen Analyse der globalen Machtverhältnisse. Die zentrale Kritik betrifft den Anspruch des Westens, in Glaubensdingen neutral und im Hinblick auf die Weltordnung gerecht zu sein. Das sind für Islamisten leere Worte, hinter denen sich Interessen verbergen. Der Kollaboration ihrer nationalen Führungsschichten setzen sie eine Art Selbstbehauptung entgegen. Scharia bedeutet "der rechte Weg zur Wasserstelle" - unerlässlich in der Wüste. Die innere Stimmigkeit ihres Glaubenssystems ist für die Vertreter der islamischen Erneuerung dem Taktieren des Westens und seiner Gehilfen in der Dritten Welt vorzuziehen. Persönliche Integrität, soziales Engagement und Erfüllung der religiösen Gebote bieten den Orientierungsrahmen. Anständigkeit ist nicht immer gewaltfrei. Sie eignet sich als Waffe gegen Fremde, besonders wenn sie als Bedrohung empfunden werden. Der Abstecher zum echten Ring führt über Opfer und Tod.
Unter der Adresse schriftenreihe@vontobel.ch ist (gratis) eine Broschüre von Rudolph Chimelli über den Islamismus zu bestellen.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10. 12. 2001)