Libertin oder Reaktionär, Aufklärer oder Psychopath, Literat oder Pornograph? Marquis de Sade bietet stets Projektionsflächen für erotisch-grausame Fantasien - wie auch bei "Sade Surreal" im Kunsthaus Zürich.
von Doris Krumpl
Zürich - Das Böse ist immer und überall. Keiner wusste dies so gut wie ein gewisser Donatien Alphonse Marquis de Sade (1740-1814), dessen Schriften immer wieder willige Projektionsflächen für erotische Fantasien abgeben. In diesen Zeiten besonders, obwohl sich Interpretationen eher auf "Schurkenstaaten" und ihre Protagonisten auswirken. Kann es Zufall sein, dass jüngst gleich zwei De-Sade-Filme ( Quills, Sade ) herauskamen und sich Tate Modern wie in Kürze das Centre Pompidou mit dieser stets zwiespältig aufgenommenen Figur im Zusammenhang mit Surrealismus beschäftigt? Sadologe Stefan Zweifel, mit Michael Pfister Übersetzer von vielen Werken des "Schrift-und Denkfallen-Stellers" de Sade, meint jedenfalls verschmitzt, dass heute weder mit Sex noch mit einer Hamlet -Aufführung samt Nazis und Taliban schockiert werden kann: "Nur noch mit grausamer intellektueller Überforderung."

Deshalb empfiehlt sich die Lektüre des ausgezeichneten Katalogbuches zur aktuellen Ausstellung Sade Surreal - Der Marquis de Sade und die erotische Fantasie des Surrealismus in Text und Bild im Zürcher Kunsthaus. Sie überfordert nicht in dem Sinn, offenbart aber die im Gegensatz zur oft platten, pubertär anmutenden und ins unfreiwillig Komische kippenden Ästhetik der frühen Surrealisten die viel abgründigeren, doppel-wie hintersinnigen Sprachkünste wie Obsessionen.

List und Listen

Die Strategien gegen die Zensur während seiner zahlreichen Gefängnisaufenthalte, Hassbriefe gegen die Schwiegermutter oder endlose, seine Umwelt in Listen bannende Dokumente - sei es auch mittels penibel geführter Onanieprotokolle: Die Fantasie spielt offenbar wieder einmal mit, wenn im Folder de Sades Vollschreiben aller leeren Flächen als Horror Vacui vor der Vagina bezeichnet wird.

De Sade und Surrealismus, das ist einerseits heute völlig überholt, sagt Kunsthaus-Zürich-Kurator Tobia Bezzola, "das ist naive, pubertäre Schwärmerei von französischen Kleinbürgersöhnen." Andererseits hätten die Surrealisten das Werk de Sades erstmals verlegt, als Text angenommen. Als Literatur, nicht als psychopathologisches Protokoll, dem sie und auch die Dadaisten Anleitungen zur "Ecriture automatique" entnahmen.

Was Wunder, dass - neben der Komponente dieses "freiesten Geistes, der jemals existierte" (Apollinaire) - absurd-unsinnige Sätze wie solche aus dem Brief de Sades an seinen Diener gefallen: "Wenn wir schon dabei sind, Monsieur Quiros, hätten Sie die Freundlichkeit, mir zu sagen, ob Sie modisch gekleidet sind, ob Sie Schürzenjägerstiefel tragen, Ohrengeschirr und eine Windmühle auf dem Kopf?"

Nichts verkörpert den Zusammenhang von inhaltlichen wie ästhetischen Aspekten der Ausstellung so sehr wie ein Objekt der "angewandten Kunst": ein Liebesstuhl, den der britische Thronfolger Edward VII. um 1890 anfertigen ließ. Nach diesem "Entrée" eröffnet sich nach der 28 Meter langen Vitrine mit Gefängnisschriften des Marquis ein kunsthistorisches Panoptikum um die Lust des Bösen und dessen erotische Kraft. Die Frau ist in diesem Herrenklub immer das Opfer, die freie Juliette in de Sades Roman also erst Thema für feministische Sadologie oder auch für Anarchistinnen wie Gudrun Ensslin, die einst Auszüge im Gerichtssaal vorlas.

Von den Menschenfressern eines Francisco de Goya oder antiken Menschenopfern bei Géricault geht der Reigen über Folter- und Zerstückelungsfantasien hin zu Dada, einem Fetischismus `a la Hans Bellmer bis zu Pierre Klossowski, Giacometti, Man Ray und letztlich zu trashigen Outsidern - was in dieser historischen Einbettung, dieser Abgeschlossenheit handzahm wirkt. Die zeitgenössische Komponente, verteidigt sich Kurator Bezzola, hätte ohnedies fast jeder im Kopf: Cindy Sherman, Araki, Jake & Dinos Chapman und die Young British Art, den "hippen" S/M-Fetischismus in Körper-Kunst-wie Clubkultur sowieso.

Dass de Sades Wertewandel in den Sixties einsetzte, ist klar. Der "göttliche Marquis" muss auch Pate dafür stehen, dass im Namen der Kunst bei Happenings von Jean-Jacques Lebel, wie die Fotos im Stiegenaufgang dokumentieren, Frauen Lauch dorthin stecken müssen, wo die Sonne niemals scheint. Bis 3. 3. 2002 (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10.12. 2001)