Wien - "Das Neue an unserer Studie ist der Versuch, Migrationsbiografien von Familien aufzuzeichnen", sagt Johannes Pflegerl, Soziologe am Österreichischen Institut für Familienforschung (ÖIF). "Wir haben uns bemüht, die Sichtweise der betroffenen Leute selbst zu rekonstruieren." Thema im Konkreten: Wohnen.Damit sollen mehrfach erhobene Makrokennzahlen über Arbeitsmarktlage und rechtliche sowie sozioökonomische Situation durch zusätzliche qualitative Daten ergänzt werden. Erzählen statt Zahlen Dazu bedienten sich die Sozialforscher narrativer, also auf Erzählungen basierender Interviews. "Wichtig war", erinnert sich Pflegerl, "Vertrauen zu den Leuten aufzubauen - zum Teil mit muttersprachlichen Interviewern." So wurden Gründe, nach Österreich zu kommen, rekonstruiert und Vergleiche mit der Wohnsituation im Heimatland angestellt. "Wir wollten unterschiedliche Bedeutungen von Wohnen zeigen, aber nicht repräsentativ, sondern typenhaft", so Pflegerl. Zudem seien mit den Migranten die ferne Vergangenheit, frühere Generationen und deren Wohnsituation erörtert worden - als historische Perspektive. "Wir haben erzählerisch einen Film gedreht, bis hin zu den Zukunftsvorstellungen", illustriert Pflegerl die Methodik. So sollten Lebensweisen von Zuwanderern dargestellt werden, die "ein Teil der österreichischen Gesellschaft geworden sind. Der Einzelfall als Möglichkeit für den Blick in die Tiefe, der sich beim großen Überblick in der Breite nicht mehr zeigen lässt." Denn für Makroperspektiven müsse man Daten sehr reduzieren, weiß Pflegerl. Die Methode versteht sich auch als Versuch, die Sichtweisen von Betroffenen und jene der ebenfalls interviewten Sozialarbeiter, Lehrer, Familienberater und -therapeuten zusammenzuführen. "Ein sehr exemplarischer Zugang", räumt Pflegerl ein, "der von den Fallgeschichten lebt". Wie jener: "Ich habe monatelang bei meinem Bruder in einem Zimmer/Kabinett gewohnt", berichtet ein Migrant. "Wir waren dort insgesamt vier Erwachsene und zwei Babys. Das war unerträglich. Ich konnte keine Wohnung finden, da die meisten zu teuer waren." "Aufgrund der strukturellen Benachteiligung, vom sozialen Wohnbau in Wien im Wesentlichen ausgeschlossen zu sein", weiß Pflegerl, "zahlen sie für richtige Löcher unglaubliche Preise. Wir waren da in Wohnungen", erinnert er sich an die Feldforschung, "wo - glaub' ich - noch nie ein Österreicher drinnen war. Die haben entsetzlich ausgeschaut. Kinder müssen sich da an den Lebensrhythmus der Erwachsenen anpassen - zum Beispiel wenn der Fernseher im Wohn-Schlaf-Raum steht." Migration als Abstieg Überraschendes Detail: "Wir haben Familien interviewt, die durchaus schöne Häuser zu Hause haben", berichtet der Sozialwissenschafter. "Nun migrieren sie in das Land, das ihnen aus Erzählungen als Verbesserung erscheint. Und machen hier in manchen Fällen böse Erfahrungen mit Spekulanten. Besonders schlimm ist es für türkische Frauen, die nachgeholt werden und merken, in welchen Löchern ihre Männer leben. Das wird als Schock erlebt." Zugleich macht die Studie, ein Teil des Forschungsschwerpunktes "Fremdenfeindlichkeit" des Bildungsministeriums, die unterschiedlichen Konzepte von Wohnen, aber auch von Kinderbetreuung deutlich. Pflegerl versteht die ÖIF-Studie daher auch als "Denkanregung, Horizonterweiterung. Integration findet eben anders statt, als man es sich hier landläufig vorstellt: Migranten müssen sich quasi anpassen in ihrer Lebensform. Wie sollen sie denn, wenn sie jahrelang anders gelebt haben? Warum sollen sie nicht auch hier anders leben?" (rosch, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11. 12. 2001)