Wirtschaft
"Wir klammern uns an jeden Strohhalm"
Betriebsversammlung in Traiskirchen: Scharfe Töne, aber nur wenig Hoffnung auf zeitgerechte Hilfe
Traiskirchen - Noch empfinde
er "net wirklich" Zukunftsangst, meint der Betriebselektriker Wolf Falke (57). Noch
habe er keinen blauen Brief
erhalten, noch verlasse er
werktags, "wie seit 43 Jahren",
sein Traiskirchener Einfamilienhaus, um ins Reifenwerk
arbeiten zu gehen: "Aber i bin
mir sicher, wenn's dann soweit ist und i das letzte Mal
durch des Tor aussegeh',
kommt der totale Einbruch."Das könnte schon kommenden Juni sein, wenn - laut Ankündigung des Conti-Konzerns - die Produktionsstätten
im traditionsreichen Semperit-Werk endgültig stillgelegt
werden. "Die Stimmung in der
Belegschaft is jetzt scho beschissen gnua, von Motivation
ka Spur mehr", berichtet der
Arbeiter. Seine Fäuste versenkt er tief in die Hosentaschen. Wegen des Schneeregens und des kalten Windes,
die mehreren Hundert Semperitlern samt Transparenten an
der Pforte zu "ihrem" Werksgeländes das Protestieren
schwer machen.
"Da sind sie"
Doch nun geht ein Ruck
durch den Mann und durch
die gesamte frierende Truppe: "Da sind sie!" Tatsächlich, ein
Taxi fährt vor, hält in Respektabstand zum Tor. Vier Männer
klettern heraus, blicken ernst
und schultern Laptoptaschen:
die Gesandten des Conti-Aufsichtsrats, unter ihnen Vorstand Hans-Joachim Nikolin.
Die Conti-Männer kommen
näher: Buhrufe und laute Pfiffe in der Menge. Sie passieren
das Tor: "Wir wollen Arbeit!
Wir wollen Arbeit!", skandieren die Demonstranten. Sie
verschwinden im Verwaltungsgebäude: Der Slogan
verstummt. "War's das?", fragt
ein Arbeiter.
1300 Jobs wackeln
Es sei falsch, schon jetzt jede Hoffnung auf Abwendung
der Kündigung von rund 1300
Kollegen aufzugeben, hatte
davor Betriebsratsobmann Alfred Artmäuer vor an die Tausend Semperitlern betont.
"Wir klammern uns an jeden
Strohhalm, und sollte er auch
unter Wasser schwimmen",
rief er den Mitarbeitern während einer Betriebsversammlung in der Werksküche zu.
Konkret meinte er Hannes
Androsch, der sich "einfach
im Sofa zurücklehnt und zum
Telefon greift", wie Artmäuer
einen Besprechungsablauf schilderte. "Nur eine Viertelstunde später", so der Belegschaftsvertreter, habe der
SPÖ-Politiker "den deutschen
Wirtschaftsminister am Telefon gehabt". Hannes An_drosch: einer, der zumindest
versuche zu helfen, im Unterschied zu vielen anderen Politikern. Vielleicht, weil er - wie
sich ein Kollege in der Werkshalle erinnert - "den Verkauf
des Reifenwerks an Conti
einst mitgemanagt hat".
An ein Abwinken Androschs, wie es am Dienstag
kolportiert wurde, wollte auch
Artmäuer nicht glauben. Zu
aussichtslos wäre sonst die
Lage, deren Dramatik sich vor allem rhetorisch niederschlug: "Conti hat uns verstoßen, die Mutter hat ihr Kind
erwürgt und weggelegt, dabei
sind wir ein Fleisch und Blut",
formulierte der oberste Belegschaftsvertreter.
"Fass ohne Boden"
Überhaupt habe sich die
Forderung der Konzernleitung, einen immer größeren
Anteil der Reifenproduktion
in Billiglohnländer wie
Tschechien, Slowenien, Rumänien oder Russland auszulagern, als "Fass ohne Boden" entpuppt. Erst sei von 20,
dann von 40 Prozent notwendigen Auslagerungen die Rede gewesen. Jetzt heiße es, das
Traiskirchener Werk rentiere
sich nicht, "dabei wurden wir
doch ausgehungert", meinte
Artmäuer.
Eine Kollegin aus der Pkw-
Reifenabteilung sieht die Sache nüchtern: "A Arbeiterin in
Rumänien verdient grad 1000
Schilling (72,67
€) im Monat.
Was wollen's da machen?"
Dann erzählt sie: 48 Jahre sei
sie alt, "da bleibt mir wahrscheinlich nur stempeln gehen". Die von Arbeitsminister
Martin Bartenstein (ÖVP) angesichts der Schließungspläne
auf einen Bezieherkreis von
1000 Leuten ausgeweitete Arbeitsstiftung sei "doch eher was für die Jungen, die noch
a Perspektive haben". Die
Aufnahmebedingungen seien
hart.
"Doppelt bestraft"
"Doppelt bestraft" komme
sie sich vor, sagt die Frau aus
dem südlichen Niederösterreich: "Z'erst, weil i die Arbeit
verlieren werd', und dann,
weil i seit der Reform erst mit
56 in Pension gehen kann."
Auch sei ihr schleierhaft, wie
sie "mit 14.000 Schilling
(1017,42
€) Höchstarbeitslose" die Raten von ihrem Hausbau abzahlen werde können.
Und sie ärgert sich: "Und dann
wird behauptet, der Staat
kümmert sich in der Stiftung
vier Jahre lang um uns." (Irene Brickner, DER STANDARD, Printausgabe 13.11.2001)