Panorama
"Nulldefizit" ist das Wort des Jahres 2001
Mehrdeutiges Wort nimmt in politischer Diskussion zentrale Position ein
Wien/Graz - "Nulldefizit" ist das österreichische Wort des
Jahr 2001 - Das hat die Wahl der Fach-Jury rund um Univ.-Prof. Rudolf
Muhr vom Institut für Germanistik der Universität Graz ergeben, an
der sich via Internet auch Journalisten und Private beteiligen
konnten. Zum "Unwort 2001" wurde "Nichtaufenthaltsverfestigte" gekürt
- ein ganz und gar "klassisches Unwort", wie die Jury festhielt.
Übrigens wurde "Nulldefizit" auch auf Rang drei der "Unwort"-
Hitparade gelistet, der Beleg für die Ambivalenz des Begriffes.
Zusätzlich wurde von der Jury noch ein "Sonder-Unwort" bestimmt:
"verbrauchende Embryonenforschung".
Expertenjury
Eine Expertenjury hatte zunächst in einer Vorauswahl 20
"Kandidatenwörter" aus einer Liste von rund 120 Begriffen ausgewählt,
die mit der APA-Onlinedatenbank AOM ermittelt worden waren. In der
Folge waren sowohl Medienprofis wie etwa Journalisten als auch
Nachrichten-"Konsumenten" - Leser, Hörer, Seher - zum Mitstimmen
aufgefordert. Auch eigene Vorschläge konnten eingebracht werden. Die
Endauswahl nahm dann wieder eine fünfköpfige Fachjury an der Uni Graz
vor.
"Nulldefizit" sei zentraler Bestandteil der innenpolitischen Diskussion
"Nulldefizit" hat nach Auskunft von Univ.-Prof. Rudolf Muhr mit
Abstand die meisten Stimmen erhalten. Der Begriff sei hochaktuell und
seit dem Amtsantritt der Bundesregierung ein zentraler Bestandteil
der innenpolitischen Diskussion.
Spezifische Mehrdeutigkeit
Die Jury: "Seine besondere
sprachliche Qualität besteht in seiner spezifischen Mehrdeutigkeit
('kein Defizit = keine Schulden'), die unausgesprochen zur Annahme
verleitet, der österreichische Staat hätte keine Schulden mehr. In
Wirklichkeit sind lediglich keine neuen Schulden zu den schon
vorhandenen hinzugekommen."
Schönfärberischer Begriff
So gesehen sei Nulldefizit "eindeutig ein euphemistischer
(schönfärberischer) Begriff, dem eine gewisse manipulative Kraft und
Ambivalenz nicht abzusprechen ist". Der Begriff spalte die Nation
nicht zuletzt wegen dieser Eigenschaften und auch wegen der sozialen
Folgen der so genannten Nulldefizitpolitik. Beleg dafür: Er rangiert
gleichzeitig auch auf Platz drei in der Liste der Unwörter.
"EU-Erweiterung" nimmt den zweiten Platz ein
In der Liste der "Wörter des Jahres" findet sich
"EU-Erweiterung" am zweiten Paltz. Die Jury: "Der Begriff ist - entgegen der
Angstparolen aus manchen politischen Lagern - allgemein positiv
besetzt." Der Begriff kam zwar auch in der "Unwörter"-Liste vor,
allerdings auf Platz 19 von 20 gereihten Wörtern. Auch noch auf dem
"Stockerl" der Wörter des Jahres: "Fettnäpfchenpolitik". Kommentar
der Jury: "Der Begriff wird von den AbstimmungsteilnehmerInnen
offensichtlich als adäquate Beschreibung vieler Maßnahmen der
derzeitigen Spitzenpolitiker von Regierung und Staatsspitze
angesehen."
Unwort "Nichtaufenthaltsverfestigte"
Kommentar der Jury zum Unwort "Nichtaufenthaltsverfestigte": "Auf
sehr zynische und traurige Weise kann dieses Wort als ein völlig
danebengegangener Beitrag der österreichischen Politik zum heurigen
Nestroyjahr angesehen werden." Das Wort, das im Zusammenhang mit dem
"Integrationsvertrag" entstand, drücke in technisch-amtsdeutschem
Jargon gegenüber den "Ausländern" aus, was viele ÖsterreicherInnen
ihnen gegenüber empfänden: Diese seien ohne "verfestigten
Aufenthalt", solange sie sich nicht assimiliert, d.h. entsprechend
angepasst haben. "So gesehen sind die mit diesem Wort Bezeichneten
'Obdachlose', 'Nichtdazugehörige', 'Nichtangepasste', die man
jederzeit wieder des Landes verweisen kann. Es ist damit ein
klassisches Unwort", so die Jury.
Negativ-Jargon
"Nichtaufenthaltsverfestigte" stehe in der Tradition des
amtsdeutschen Negativ-Jargons, der in Österreich seit einigen Jahren
nicht nur gegenüber Ausländern, sondern auch gegenüber sozialen und
ethnischen Minderheiten verwendet würde und sich wie ein roter Faden
durch die politische Diskussion ziehe. Bereits im vorletzten Jahr sei
mit dem Wort "Schübling" ein negativer Höhepunkt erreicht worden, der
kaum noch überbietbar schien, so die Jury: "Dass dieses Wort seine
Geburtsstunde in einem Interview eines Spitzenpolitikers (des
ÖVP-Klubobmanns Andreas Khol, Anm.) erlebte, macht die Sache nur noch
bedenklicher, handelt es sich bei seinem Schöpfer - im Gegensatz zum
vorletzten Jahr - nicht um einen Polizisten, sondern um einen
führenden 'Volksvertreter'." Hauptmerkmal dieses Sprachgebrauchs sei
"die Entmenschlichung der Betroffenen, die zu reinen Objekten ohne
Namen und Gesicht und damit zugleich entrechtet werden".
"Restneutralität" wird zweitrangiertes "Unwort"
Auf Rang zwei der "Unwort"-Parade kam "Restneutralität" - "weil es
eine Herabwürdigung von 50 Jahren österreichischer Identität
darstellt" (Jury). "In semantischer Hinsicht ist der Ausdruck
unsinnig, da man ja weder ein bisschen 'schwanger' noch ein bisschen
'neutral' sein kann." Dass in derart unqualifizierter Weise mit
zentralen Begriffen der österreichischen Nachkriegsgeschichte
umgegangen werde, werfe ein bedenkliches Licht auf den Zustand der
praktischen Politik in Österreich, "noch dazu, wo diese Begriffe in
gleichem Atemzug zu überholten 'Schablonen' erklärt wurden", hieß es.
"Nulldefizit" wurde wie erwähnt vor allem wegen seines
euphemistischen Charakters auf Rang drei der "Unwort"-Liste
platziert.
"Verbrauchende Embryonenforschung" fällt unter Sonderunwort
Schließlich hat die Jury aus den mehr als 200 zusätzlichen
Vorschlägen für andere Wörter bzw. Unwörter des Jahres ein
"Sonder-Unwort" gekürt: "Verbrauchende Embryonenforschung". Die
Begründung: "Es bezeichnet in technisch-entmenschlichter Weise den
Umstand, dass Embryonen bei der Stammzellengewinnung und in der
Gentherapieforschung in großer Zahl für die Forschung 'verbraucht',
d.h. vernichtet werden, da die Experimente entweder misslingen oder
von vornherein das 'Vernichten' der Embryonen inkludieren. Es ist
müßig zu fragen, wo da die Grenzen solchen Tuns sind: Sie sind längst
überschritten." (APA)