Mit Kindern und Hilfsgütern mitten in ein Minenfeld
In Europa behandelte afghanische Kinder wurden wieder nach Hause gebracht
Redaktion
,
Kabul - Die Sicht ist klar, Erdögan Türker wagt
es: Schweißperlen auf der Stirn, die Zigarette
in der linken, das Steuer in der rechten Hand,
drückt der Flugkapitän die Maschine nach
unten. Kopilot Attila Koser vertraut lieber auf
die Gebetskugeln in seiner Hand. Der Airbus
300 der türkischen Chartergesellschaft Alfa
Air ist das erste zivile Großflugzeug, das seit
Jahren auf dem Flughafen Bagram bei Kabul
landet.
Es gilt das schmale Betonband anzupeilen,
das sich kaum von der Wüstenlandschaft abhebt. Es gibt keine Navigation. Der Tower ist
die höchste der paar Ruinen, die am Rande
des Flugplatzes neben Gerippen von Fahrzeugen und Resten von Maschinen stehen.
Nur bei Tageslicht darf der afghanische Luftraum angeflogen werden, denn es ist Kriegsgebiet. Eine B-52 am Himmel und zwei US-Militärmaschinen auf dem Boden zeigen, wer
den Luftraum beansprucht.
Steyrer Arzt hilft seit 1990
Das von der Hilfsorganisation Friedensdorf
International gecharterte Flugzeug ist beladen mit 21 Tonnen Hilfsgütern aus Deutschland und Österreich - und vielen Erwartungen. 39 afghanische Kinder, die von der Hilfsorganisation vor mehreren Monaten zur Behandlung in deutsche und österreichische
Krankenhäuser ausgeflogen wurden, kehren
zurück. Acht davon waren in österreichischen Spitälern. Die Behandlung von kriegsverletzten Kindern in Österreich organisieren
seit 1990 der Steyrer Arzt Michael Schodermayr und sein Team. Rund zehn Kinder sollen wieder zur Behandlung nach Europa gebracht werden.
Bevor die gesund gepflegten kleinen Afghanen wieder den Boden ihres Heimatlandes
betreten können, ist Geduld nötig. Kaum ist
die Flugzeugluke geöffnet, ist ein dumpfes
Grollen zu hören, dann ein lautes "Rrrrums":
Es ist kein Salutschuss zur Begrüßung, sondern die kontrollierte Sprengung einer Mine
in Sichtweite. Steine fliegen durch die Luft,
die Staubwolke ist gut hundert Meter hoch.
Nach knapp vierzig Minuten Verhandelns
mit Afghanen auf dem Boden lässt der Kapitän des Flugzeuges den Motor noch einmal
an. Der Betonstreifen an dieser Stelle ist zu
schmal, wir müssen uns einen breiteren Flecken zum Entladen suchen. Denn links und
rechts der Landebahn lauern Minen. Alle paar
Minuten ist die Sprengung einer weiteren zu
hören.
Die Passagiere werden immer unruhiger,
aber es gibt keine Treppe, um aus dem Flugzeug zu kommen. Nach langem Diskutieren
wird ein klappriger Lkw herangefahren. Auf
den wird eine normale Leiter gestellt. Über
diese wacklige Brücke balancieren die Kinder
zurück in ihre Heimat. Auch die vom Friedensdorf gesammelten Decken und die Kleidung werden auf Lkw geladen. Eine im Konvoi fliegende, ebenfalls gecharterte Iljuschin
hat weitere Hilfsgüter geladen - insgesamt 90
Tonnen Überlebenshilfe.
Einen Afghanen, der sich offiziell als Mann
vom "Airport" vorstellt, interessieren am Gepäck der Mitreisenden vor allem zwei Sachen:
Er inspiziert auf dem Rollfeld zum Gaudium
der umstehenden Landsleute die mitgebrachte Unterwäsche, die er mit spitzen Fingern
aus der Reisetasche zieht, und den Spiegel,
wobei er missbilligend den Kopf schüttelt, als
er Fotos von zerschossenen Gebäuden in Afghanistan sieht.
Statt Häusern eine lehmige Masse
Als die Güter endlich auf die Lastwagen
verteilt sind, setzt sich die Karawane in Bewegung. Außerhalb des Flughafengeländes
sieht alles so aus, als ob die kämpfenden
Truppen gerade erst abgezogen sind. Entlang
der ersten drei Kilometer stehen 27 zerschossene Panzer. Die wenigsten Häuser sind noch
als solche erkennbar, sondern bilden eine hügelige, lehmige Masse. In einigen Fenstern sind noch Sandsäcke aufgebaut. Die Straße
ins 80 Kilometer entfernte Kabul ist ein asphaltierter Weg. Passierbare Brücken gibt es
nicht, die Flüsse sind aber ohnehin nur breitere Bäche, die man durchfahren muss. Immer wieder gibt es Gefechtsstände, die so ausschauen, als ob sie soeben verlassen worden
sind.
Das Industrieviertel von Kabul ist eine Ansammlung von Hausruinen ohne Fenster. Es
gibt auch immer mehr Autos, viele von ihnen
haben ein Bild des ermordeten Nordallianz-Anführers Ahmed Shah Massud auf der
Windschutzscheibe kleben.
Beim Gebäude des Roten Halbmondes gibt
es große Wiedersehensfreude: Einige Eltern
haben tagelange Fußmärsche auf sich genommen, um ihre geheilten Kinder in Empfang zu nehmen. "Danke, Danke", stammelt
Fatima immer wieder.
Die Mutter lüftet die Burka, den Umhang,
um ihren siebenjährigen Sohn Mohammed zu
küssen, der ein Jahr in Deutschland zur Behandlung war. Die Tränen laufen ihr über die
Wange. Auf die Frage, ob ihr Sohn in Europa
nicht noch sicherer gewesen wäre, antwortet
sie mit einem breiten Lächeln: "Aber er ist
hier zu Hause." (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 13.12.2001)
Forum:
Ihre Meinung zählt.
Die Kommentare im Forum geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder.
Die Redaktion behält sich vor, Kommentare, welche straf- oder zivilrechtliche Normen verletzen,
den guten Sitten widersprechen oder sonst dem Ansehen des Mediums zuwiderlaufen
(siehe ausführliche Forenregeln),
zu entfernen. Benutzer:innen können diesfalls keine Ansprüche stellen.
Weiters behält sich die STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. vor, Schadenersatzansprüche
geltend zu machen und strafrechtlich relevante Tatbestände zur Anzeige zu bringen.