Der US-Präsident kann heute ohne große Probleme den ABM-Vertrag mit Russland kündigen, der Unterstützung der amerikanischen Bevölkerung, die ihm Anfang des Jahres noch fehlte, gewiss und mit einem US-Kongress im Rücken, der sich scheut, in Zeiten der nationalen Bedrohung die Politik des "bipartisanship", des parteiübergreifenden Konsenses, aufzugeben. Die Kritiker des geplanten Missile-Defense-Systems aber - zu teuer, zu unausgereift - können auch mit ihrem letzten Argument nicht stechen: Die Anschläge vom 11. September hätten doch bewiesen, dass die Bedrohung aus dem eigenen Land komme - nicht Raketen eines "Schurkenstaates" haben das World Trade Center vernichtet, sondern Flugzeugpiraten, die unerkannt in den USA lebten.
"Es wird keine Hysterie geben", hat sich ein russischer Politiker dieser Tage angesichts des Endes des ABM-Vertrags zitieren lassen. Der russische Präsident Wladimir Putin mag keine Neufassung des dreißig Jahre alten Rüstungskontrollvertrags mehr erreicht haben, das Verhältnis zwischen Russland und den USA hat sich dessen ungeachtet in den vergangenen Wochen entscheidend und vielleicht auch dauerhaft verbessert. Für Washingtons außenpolitische Strategen sieht die Welt nach dem 11. September anders und paradoxerweise besser aus.
Zur Erinnerung: George W. Bush und seine "Kalten Krieger" aus der Zeit der Ford- und Reagan-Administration avancierten innerhalb eines halben Jahres nach ihrem Amtsantritt zu Buhmännern der internationalen Gemeinschaft. Rückzug an allen Fronten lautete der Marschbefehl des Weißen Hauses. Washington hat das UN-Protokoll zur Kontrolle biologischer Waffen abgelehnt, die UN-Konferenz gegen die Verbreitung von Kleinwaffen blockiert, das Kioto-Protokoll durch den Ausstieg der USA entwertet und seit Januar eben konsequent an der Kündigung des ABM-Vertrags gearbeitet.
Zugleich fiel die Bush-Regierung durch ihren kriegerischen Ton gegen China auf, gedopt durch die Affäre um das auf Hainan notgelandete US-Spionageflugzeug und neue Rüstungslieferungen an Taiwan. Die Europäer stöhnten unter dem unilateralen Kurs des Präsidenten aus Texas und rühmten vergeblich den ABM-Vertrag als Eckstein des strategischen Gleichgewichts zwischen den Atommächten Russland und USA. Heute werden sie kaum gegen das ABM-Ende protestieren, um Washingtons internationale Koalition gegen den Terrorismus nicht zu belasten.
"Macht hat derjenige, der es sich leisten kann, nicht lernen zu müssen", sagte der Politikwissenschafter Karl Deutsch über die neuen Großmächte nach 1945. Die USA unter George W. Bush haben genug Macht, um unbeschadet aus einem großen internationalen Vertrag auszusteigen, doch zugleich lernen sie, die neue internationale Situation nach dem 11. September für sich zu nutzen. Bemerkenswertes hat die Antiterrorkoalition nämlich geschaffen. Die USA haben einen Großteil der Allianzen in Südasien und im Pazifikraum, der Bühne für den strategischen Konflikt der nächsten Jahrzehnte, zu ihren Gunsten wenden können.
Die Atommächte Pakistan und Indien sind plötzlich Alliierte geworden, US-Soldaten operieren wieder auf den Philippinen; Indonesien kann bald wieder mit Militärhilfe rechnen. Antiterrorkoalition und der Aufbau eines nationalen Systems zur Raketenabwehr fassen ineinander.
Denn nach wie vor sind die Adressaten des Missile-Defense-Systems nicht Russland und nicht einmal so sehr die "Schurkenstaaten", die zu anderen Mitteln als Raketen greifen könnten. Washington geht es weiter um die aufstrebende Groß- und Atommacht China.