Man muss nicht links stehen, um zu verstehen, dass die Wurzeln des Konflikts im Nahen Osten Neokolonialismus und antiarabischer Rassismus sind. Steht man links, ist allerdings die Wahrscheinlichkeit größer, in beides verwickelt zu sein. Denn die Kolonialisten sind nicht die Israelis, wie das linke Kreise üblicherweise behaupten. Es sind vielmehr die diplomatischen, akademischen und journalistischen Eliten des Westens.Die Linke hat sich in ihrer rastlosen Suche nach dem unterdrückten "anderen", den sie als Opfer verteidigen kann, längst auf die Palästinenser eingeschworen. Sie muss die Welt in Ausbeuter und Ausgebeutete aufteilen, um die Geschichte als einzige Abfolge von Ungerechtigkeiten darstellen und damit zugleich ihren Widerstand legitimieren zu können. Im Nahen Osten wurde die Rolle des imperia-listischen Ausbeuters den Israelis zugeteilt. Doch die Diagnose der Linken wird der Wahrheit nicht gerecht. Die Gründung Israels wurde von jenen Kräften des Westens - in Diplomatie, Politik und Wirtschaft - abgelehnt, die imperiale Interessen verteidigten. Unterstützt wurde sie von der Sowjetunion, die damals in der Staatsgründung eine Möglichkeit sah, das britische Empire zu untergraben. Und wann immer Israel in der Folge Hilfe brauchte, wurde das von jenen im Westen abgelehnt, die sich im Nahen Osten bis heute als Kolonialisten gebärden, indem sie auf ihre guten Verbindungen zu Ölproduzenten, ihren historischen Einfluss auf arabische Eliten und die ihre Handelschancen pochen. Nicht Israel ist Kolonialismus vorzuwerfen. Israel ist ein Opfer des Kolonialismus. Es leidet unter einer im Westen sehr verbreiteten Haltung, die UN-Generalsekretär Kofi Annan einmal treffend als "amoral equivalence" bezeichnet hat. Nach wie vor tendiert man im Westen dazu, dem Anschein nach unlösbare Konflikte zwischen fremden Völkern als Zänkereien zwischen "Stammesführern" oder "Kriegsparteien" wahrzunehmen, und Versuche, die Wurzeln des Konflikts bloßzulegen oder die moralische Schuld festzustellen, gelten von vornherein als Zeitverschwendung. Statt in jedem Teilnehmer eines Konflikts mündige Erwachsene zu sehen, die für das, was sie tun, moralisch verantwortlich sind und daher Rechenschaft ablegen müssen, betrachtet der Westen das Geschehen noch immer aus der Warte des Distriktkommissars, für den die Eingeborenen streitende Kinder waren, die sich nach dem Prinzip "wie du mir, so ich dir" die Köpfe einschlugen. Diese tragische, neokolonialistische Arroganz hat bereits unsere Politik in Bosnien bestimmt: Während des ganzen Bosnienkriegs bestand Großbritannien darauf, dass es sich um einen schwelenden Konflikt handle, der immer wieder in blutige Kriege ausarte, angefacht durch unergründliche ethnische Widersprüche aus grauer Vorzeit, die weder zu verstehen noch moralisch zu beurteilen seien. Die erbärmlichen Folgen dieser "amoralischen Äquidistanz": Tausende Menschen, die meisten unter ihnen Muslime, verloren ihr Leben. Und nun müssen wieder Unschuldige sterben, weil der Westen nicht in der Lage ist, zwischen dem Überlebenskampf eines demokratischen Staates und seinem totalitären Angreifer zu unterscheiden. Arafat ist nicht besser als Milosevic: ein Kleptokrat, ein Autokrat, ein Sponsor des Terrors. Solange wir den Tropenhelm des Distriktskommissars nicht ablegen, werden wir im Nahost-Krieg nichts anderes sehen können als bloß eine weitere "Keilerei" zwischen Big Chief Sharon und Scheich Arafat. Solange wir die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die Demokratie unter Beschuss steht, stellen wir uns auf die Seite des Unrechts. Aber da ist noch ein zweites neokolonialistisches Hindernis, das einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten den Weg versperrt. Es ist diese sture, rassistische, Ansicht, die arabische Welt sei einfach nicht reif für die Demokratie. So wie die Sinologen im guten alten Foreign Office von asiatischen Werten und der konfuzianischen Konfliktscheue schwafelten, als man Hongkong die Demokratie verweigerte, winken nun ihre Kollegen unter den Arabisten mit einer Hand jeden Protest gegen saudische, syrische, iranische, palästinensische und irakische Despoten ab, während sie mit der anderen Hand nach den Handelsverträgen greifen. Das stinkt nicht nur moralisch, sondern geht auch praktisch daneben. Alle diese Nationen verschärfen Konflikte im Nahen Osten, indem sie die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die demokratische Meinungsäußerung nicht kennt, in Hass gegen Israel und den Westen umfunktionieren. Die einzige Möglichkeit, die schwere Schuld zu tilgen, die wir in Nahost auf uns geladen haben, ist unser Einsatz für Demokratie - indem wir die einzige Demokratie der Region in ihrem Abwehrkampf gegen den Terror mit allen Kräften unterstützen. Und indem wir unsere demokratischen Verbündeten in den anderen Staaten des Nahen Ostens stärken. Beginnend im Irak. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.12.2001)