Der Leiter des in Brüssel angesiedelten Studienzentrums für Europäische Politik hat vor kurzem scharfsinnig jene ganz merkwürdige Dynamik analysiert, die die Staats- und Regierungschefs der Union bei ihren EU-Gipfeln manchmal auslösen: "Zum Glück für Europa haben die Versprechungen, die der Europäische Rat einmal abgegeben hat, die Eigenschaft, dass sie irgendwann tatsächlich erfüllt werden - ganz egal, was dazwischen in den Wahlzyklen passiert", schreibt Peter Ludlow.

Ironisch fügt er hinzu: "Das persönliche Pech der einzelnen politischen Führer, aus denen der Rat gerade besteht, ist, dass sie während dieser Wahlzyklen aus dem Amt gefegt werden, bevor die EU ihre Ziele erreicht."

Ludlow legt eine merkwürdige Schizophrenie im Klub der Mächtigen Europas offen, die letztlich auch für den mannigfaltigen EU-Frust der Bürger mitverantwortlich ist. Es wird auf der europäischen Ebene stets viel zu viel und viel zu früh versprochen, was man dann nicht einhalten kann, weil dazwischen immer irgendein Staatsmann aus Rücksicht auf nationale Befindlichkeiten (und Wahlen) bremst. So war das bei früheren Erweiterungen, beim Binnenmarkt, dann bei der Währungsunion. So ist es bei der Öffnung der Grenzen mit dem Schengen-Abkommen und bei der gemeinsamen Außenpolitik, die noch in den Kinderschuhen steckt.

Und so wird es - wenn Ludlow Recht hat - wohl auch beim zentralen Thema des EU-Gipfels in Schloss Laeken in Brüssel an diesem Wochenende laufen, das der Union eine weite Perspektive eröffnen soll: eine europäische Verfassung. In Laeken soll der Ablauf der großen Reform fixiert werden - lange bevor noch der erst vor einem Jahr beschlossene neue EU-Vertrag von Nizza überhaupt in Kraft getreten ist. Nach dem Willen der EU-Chefs wird es diesmal aber - erraten - rasch gehen. Mitte 2004, so heißt es in den ehrgeizigen Plänen der belgischen Ratspräsidentschaft, soll die Verfassungsentscheidung fallen. Das Europäische Parlament, das eine Schlüsselrolle beansprucht, will das alles sogar noch schneller.

Vieles spricht dafür

Für dieses Ansinnen, das grosso modo vor allem von den integrationsfreudigen EU-Gründerstaaten forciert wird, spricht grundsätzlich vieles. Wer wird schon gegen eine ordentliche Verfassung sein, die einen schlampigen Zustand von zersplitterten Verträgen ersetzt? Die Aktion wird insbesondere mit dem Argument begründet, dass diese Reform - eine "Vertiefung" der Rechtsgemeinschaft - noch vor dem Vollzug der geplanten Erweiterung geschehen müsse. Sonst drohe Lähmung.

Vertiefung und Erweiterung, heißt es dann, seien kein Gegensatz. Daran sind erhebliche Zweifel angebracht. Denn so wie das Projekt derzeit angelegt ist, muss es von den Kandidaten eigentlich als Zumutung empfunden werden: Sie sollen bei den Beratungen zur Bildung einer Verfassung bestenfalls als Beobachter eingeladen werden, ohne Mitspracherecht.

Gleichzeitig erwartet man von ihnen, dass sie in den nächsten zwölf Monaten die Verhandlungen über den Beitritt abschließen, also den derzeitigen EU-Rechtsbestand unter Dach und Fach bringen. Die Ratifizierungen der Beitrittsverträge, die Referenden, sollten dann bis Anfang 2004 folgen - fast zeitgleich mit dem von den Regierungschefs ins Auge gefassten Abschluss einer EU-Verfassung.

Die würde dann natürlich auch für die heutigen Kandidaten gelten. Das ist ein bisschen viel verlangt, denn sie wird die Spielregeln gravierend verändern. Welches Land, welche Bevölkerung ist schon bereit, eine legistische Katze im Sack zu kaufen? Der an sich positive Prozess einer Verfassungsbildung könnte also in den Kandidatenländern für schwere Verunsicherung sorgen.

Das ist - zehn Jahre nach dem Start des Beitrittsprozesses und kurz vor dem Abschluss - entbehrlich. Die Vertiefung ist ihrer Natur nach langsamer als die Erweiterung. Die baldigen Partner der EU müssen daher deren zukünftige Verfassung voll mitgestalten dürfen.

(DER STANDARD, Printausgabe, 15.12.2001)