Aufgerieben, gefangen, auf der Flucht diejenigen, die nicht in Kämpfen gefallen sind und zum Teil wohl auch noch als Kriegsgefangene massakriert, so sieht drei Monate nach den Terroranschlägen in den USA das aus, was von Osama Bin Ladens Organisation al-Qa'ida (Die Basis) in Afghanistan geblieben ist. Und jetzt? Ist es vorbei? Ist die terroristische islamistische Internationale vernichtend geschlagen? Zeit für einen Rückblick - und den Versuch eines Ausblicks.Als DER STANDARD am Abend des 11. September, wenige Stunden nach den Attentaten, mit einer ausführlichen Analyse der Qa'ida unter dem Titel "Der erste Gedanke: Es war Osama Bin Laden" auf den außenpolitischen Seiten in die Kolportage ging, lag der Vorwurf eindimensionalen journalistischen Denkens nicht fern. In zahlreichen Gewissenserforschungen habe ich mich seitdem gefragt, was mich damals die Verantwortung für diese scheinbare Vorverurteilung übernehmen ließ. Auf meinem Schreibtisch lag die der Qa'ida gewidmete August-Nummer von Jane's Intelligence Review, die wir zurate ziehen, wenn sie uns von höchstem aktuellem Wert erscheint. Den ganzen Sommer hindurch war eine Warnung vor möglichen Anschlägen gegen US-Einrichtungen auf die andere gefolgt, gemeint war islamistischer Terror wie 1998 gegen die Botschaften in Nairobi und Daressalam oder 2000 gegen die USS Cole vor der jemenitischen Küste. Zeichen einer Eskalation Und in Afghanistan, dem Gastland Osama Bin Ladens, stand etwas bevor, das spürte man: Die Verhaftung der Shelter-Now-Mitarbeiter durch die Taliban und die Ermordung von Nordallianz-Militärchef Ahmed Shah Massud waren Zeichen einer damals nur schwer greifbaren Eskalation. Die Flüchtlingsströme schwollen dramatisch an. Ausschlaggebend für die schlafwandlerische Sicherheit, mit der wir den Artikel am 11. September in die Zeitung stellten, war aber eher ein emotionales Argument des ersten Augenblicks: die Beteiligung einer größeren Anzahl von Selbstmördern an den Anschlägen. Das war etwas anderes, als ein mit Sprengstoff beladenes Auto vor einem Gebäude abzustellen, wie beim rechtsextremen Anschlag in Oklahoma. Da sprach die Todessehnsucht der "Djihadisten", die in einer Botschaft Osamas später tiefenpsychologisch perfekt beschrieben wurden als junge muslimische Männer, die den Tod genauso lieben wie die jungen amerikanischen Männer das Leben. Das war der Djihad, der heilige Krieg, das war al-Qa'ida. Drei Monate später Drei Monate später wissen wir ungleich mehr Details als damals, gleichzeitig sind viele Sicherheiten, so genau die oben erwähnte, zerstört: Da gehen seriöse Medien wie der Spiegel sorgfältigst den Weg der einzelnen von der Botschaft Osamas verblendeten, ihr Schicksal angeblich bewusst suchenden Selbstmörder nach - fast gleichzeitig kommt die Meldung von einem Video, auf dem der Terrordrahtzieher erzählt, dass bei weitem nicht alle Beteiligten vom 11. September wussten, dass ihre Mission mit ihrem Tod enden würde. Da drängt sich die Frage auf, was es bedeutet, wenn sich nun die letzten Kämpfer um Osama Bin Laden, die hauptsächlich aus "arabischen Afghanen" bestehen, in den Bergen von Tora Bora ergeben: Wollen sie einfach nur leben oder wollen sie leben, um das Überleben der Idee zu sichern? Nach dem, was wir von ihnen denken, muss es doch ein Leichtes, ja Erstrebenswertes für sie sein, im Djihad zu sterben und ein Recht auf alle damit verbundenen Privilegien im Jenseits zu erwerben. Paradies im Hinterkopf Die Antwort liegt wahrscheinlich in dieser eigenartigen Mischung zwischen eschatologischem Denken und Anspruch an die Gegenwart, die nicht nur den islamischen, sondern alle religiösen Fundamentalismen auszeichnet. Mit dem Paradies im Hinterkopf verfolgt die islamistische Militanz, die sich in al-Qa'ida erstmals länderübergreifend organisiert hat, ganz irdische politische Ziele, die sich nicht vordringlich in Utopien äußern wie einem weltumfassenden islamischen Gottesstaat oder der pauschalen Zerstörung des Westens (wie es Propagandisten der anderen Seite darzustellen pflegen). Osama Bin Ladens in seinen Reden erstgenannter Anspruch war etwa immer, die amerikanische (Militär)-Präsenz auf der heiligen islamischen Erde der arabischen Halbinsel zu beenden und, ganz praktisch, die zu dieser Erde gehörenden Ressourcen dem Zugriff der "Fremden" zu entziehen. Für viele - auch nicht gewaltbereite - Muslime durchaus einleuchtend. Das heißt aber auch, dass mit dem Tod von Osama Bin Laden und der Zerschlagung der Qa'ida nicht deren Ziele verschwunden sein werden. Es stimmt, ihre vertikalen Strukturen, dargestellt durch Einzelpersonen, waren in Afghanistan verankert und sind dahin, Osamas mutmaßlicher Militärchef Mohammed Atef ist sicher tot, sein ideologisches Hirn Ayman al-Zawahiri vielleicht, die zwölfköpfige Shura (Rat) ist versprengt. Die genaue Funktionsweise der vier Komitees der Qa'ida - Militär, Religion, Finanzen, Medien - in der Vergangenheit ist unklar, aber da es sich eher nur um ausführende Organe gehandelt haben dürfte, sind sie ersetzbar. "Eher Glaube als organisatorische Links", schreibt die Financial Times, habe die Anhänger untereinander verbunden, innerhalb einer mit einem Anschlag beauftragten Gruppe wussten die Mitglieder meist nur über den eigenen, sehr begrenzten Aufgabenbereich Bescheid. Das bedeutet andererseits, dass ein Mastermind für jede einzelne Aktion unbedingt vonnöten war. Ob diese Personen alle in Tora Bora sitzen, ist mehr als zweifelhaft. Aufdeckung der finanziellen Strukturen des Netzwerks Die größten Anstrengungen galten in den letzten Wochen und Monaten der Aufdeckung der finanziellen Strukturen des Netzwerks, die die eigentliche Stärke der Qa'ida, die Horizontalität, gut reflektieren. Zwar gab es kurzfristige Versuche Osama Bin Ladens, eine dem Firmenimperium seines Vaters nachempfundene Geldbeschaffungsmaschinerie mit geographischer Basis zu schaffen, 1992 bis 1996, in den sudanesischen Jahren des geborenen Saudi. Diese Aktivitäten, deren Großteil aus legalen Geschäften bestand, wurden abrupt beendet, als Khartum ihn auf saudischen und amerikanischen Druck hin auswies, worauf er nach Afghanistan "zurückkehrte". Heute scheint gesichert, dass Osama Bin Laden unter dem Strich im Sudan Geld verlor, er war zu kurz dort, als dass sich seine großen Investitionen rentiert hätten. Das Geheimnis war auch nicht das ererbte Vermögen des Terrorchefs, wie man lange glaubte - sondern eher das Kleinvieh, das bekanntlich auch Mist macht: Schnitte an islamischen Wohlfahrtsvereinigungen und an Geschäften islamischer Banken, die heute noch von ihren Regierungen, meist am reichen Golf, geschützt werden mit dem Argument, dass es solche Institution nicht per se illegal macht, wenn ein kleiner Teil ihrer Gelder in die falschen Hände kommt. Aber heute wissen wir, dass mit diesen Spenden, die bestimmt oft im harmlos verstandenen Sinne des islamischen Almosengebots gegeben wurden, nicht nur der islamistische Terror gegen die USA, sondern auch islamistische Soldaten von Bosnien über Tschetschenien und Kaschmir bis zu den Philippinen finanziert wurden. Die Kosten für Planung und Durchführung der Anschläge vom 11. September werden auf rund 500.000 US-Dollar geschätzt, nur eine mittlere Ausgabe in diesem Kontext. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.12.2001)