Als Bin Laden am 9. September General Ahmed Massud, den Militärchef der Nordallianz, ermorden ließ, wollte er einen Mann beseitigen, der für Washington nach den Attentaten wichtig werden könnte. Die USA, so sein Kalkül, würden sich ohne Massud nicht auf die Nordallianz stützen können. Sollten sie es dennoch versuchen - mit dem Ziel, das Taliban-Regime zu stürzen, dessen Schutz er genoss -, würde sich ihnen das 150 Millionen Einwohner zählende Pakistan in den Weg stellen, eine bedrohliche Militärmacht, die zudem im Besitz von Atomwaffen ist. Nie würde Islamabad die Zerschlagung der Taliban akzeptieren, denn schließlich hatten sie es Pakistan ermöglicht, ein uraltes Ziel zu verwirklichen: Afghanistan zu kontrollieren und es faktisch auf ein Protektorat zu reduzieren. Auch der nördliche Anrainer Russland würde - ohnehin verstimmt über Bushs Lieblingsprojekt: den Raketenabwehrschild - den Amerikanern nie und nimmer Stützpunkte bei seinen zentralasiatischen Verbündeten Usbekistan und Tadschikistan zur Verfügung stellen.
Der Gang der Ereignisse zeigte, dass Bin Laden sich gewaltig getäuscht hatte. Vor die Wahl gestellt, den Vereinigten Staaten zu helfen oder aber in strategisch wichtigen Fragen erhebliche Risiken einzugehen - etwa hinsichtlich des Kaschmirkonflikts, der Rivalität mit Indien und des Besitzes von Atomwaffen -, war Pakistan binnen 24 Stunden bereit, Afghanistan preiszugeben. Auch Russland zögerte keinen Augenblick. Wladimir Putin war der erste ausländische Staatschef, der Bush am 11. September kontaktierte und ihm die Solidarität seines Landes zusicherte. Putins Zugeständnisse in Zentralasien beunruhigten seine Generäle zutiefst. Neuerdings wird vereinzelt sogar eine Aufnahme Russlands in die Nato erwogen.
Im Klartext bedeutet die neue Haltung Russlands, dass weltweit kein Militärbündnis mehr möglich ist, das ein Gegengewicht zu den USA bilden könnte. Deren militärische Dominanz ist in ihrer Absolutheit nicht mehr steigerungsfähig. Insofern stellt die seit dem 7. Oktober laufende "Strafexpedition" gegen Afghanistan eine furchteinflößende Warnung an die Adresse aller Länder dar: Wer sich gegen die Vereinigten Staaten erhebt, wird allein dastehen, wird ohne jeden Verbündeten bleiben und sich der Gefahr aussetzen, in die Steinzeit zurückgebombt zu werden. Und schon publizieren US-amerikanische Zeitschriften die Liste der nächsten potenziellen "Ziele": Irak, Iran, Syrien, Jemen, Sudan, Nordkorea.
Eine weitere Lektion der Ereignisse nach dem 11. September liegt darin, dass wir die Globalisierung als Hauptmerkmal unserer Zeit, aber auch als ein verwundbares Gefüge erkennen. Deshalb sehen die Vereinigten Staaten den dringenden Bedarf, als Begleitschutz für die Globalisierung einen Sicherheitsapparat aufzubauen. Mit dem "Anschluss" Russlands, dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) und dem weltweiten Kampf gegen den Terrorismus - als willkommenem Vorwand zum Abbau von Freiheit und Demokratie - scheinen alle Voraussetzungen für den zügigen Aufbau eines globalen Sicherheitssystems vorzuliegen, das ohne Zweifel einer umgestalteten Nato anvertraut wird.
Gleichwohl gibt es noch Stimmen, die der liberalen Globalisierung einen Teil der Verantwortung für die Ereignisse des 11. September anlasten. Denn die Globalisierung habe überall in der Welt zu mehr Ungerechtigkeit, mehr Ungleichheit, mehr Armut geführt und damit die Hoffnungslosigkeit und Verbitterung von Millionen Menschen derart auf die Spitze getrieben, dass in der arabisch-muslimischen Welt die Bereitschaft wächst, sich radikalen islamistischen Gruppen wie al-Qa'ida anzuschließen und deren extreme Gewaltaktionen zu befürworten.
In dem Maße, wie die Globalisierung die Staaten geschwächt, die Politik entwertet und Regulierungen abgebaut hat, kam sie dem Aufstieg von Organisationen zugute, die sich durch weiche, nicht hierarchische, nicht vertikale, netzartige Strukturen auszeichnen. Sowohl die global agierenden Konzerne als auch die Nichtregierungsorganisationen haben von dieser neuen Ausgangslage profitiert. Doch nicht nur sie - dieselben Bedingungen ließen eine Vielfalt parasitärer Organisationen entstehen, die sich die frei gewordenen Räume zunutze machen: Mafia, organisierte Kriminalität, Sekten, terroristische Gruppen.
Al-Qaida mit ihren multinationalen Ablegern und Finanznetzen, ihren Medienkontakten und Kommunikationskanälen, ihrem logistischen System und Propagandaapparat, ihren Filialen und Unterfilialen erweist sich mithin als eine Organisation, die die Zeichen des globalen Zeitalters erkannt hat.
Die Geschichte kennt Stadtstaaten (Athen, Venedig), Regionalstaaten (zur Zeit des Feudalismus), Nationalstaaten (im 19./20. Jahrhundert). Mit der Globalisierung entsteht nun der Netzstaat, ja sogar der Einmannstaat, dessen erstes Exemplar Bin Laden darstellt, obwohl solche Gebilde einstweilen noch - so wie der Einsiedlerkrebs, der sich eine leere Muschelschale sucht - einen leeren Staat (gestern Somalia, heute Afghanistan) brauchen, um ihre Ambitionen zu realisieren.
Die Globalisierung fördert diese Entwicklung, so wie sie morgen das Auftreten von Unternehmensstaaten begünstigen wird, die - wie Bin Laden - ausgehöhlte, leere, entstrukturierte, mit endemischem Chaos konfrontierte Staaten einnehmen und für ihre eigenen Zwecke gebrauchen werden. Auch in dieser Hinsicht gibt sich Bin Laden als furchteinflößender Vorläufer künftiger Entwicklungen zu erkennen.
Deutsch von Bodo Schulze
Dieser Text ist aus der laufenden deutschsprachigen Ausgabe von "Le Monde diplomatique".
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16.12.2001)