Die Scheinwerfer flammen auf, herein dringt der Hofstaat. Ein unscheinbarer grauer Herr huscht in die erste Reihe. Spannung: ER betritt, frisch gepudert von der Maske, den Raum. Man setzt sich. Blitzlichtgewitter. Huldvoll ermutigt er, vom Sofathron herab, mit einer Geste den unscheinbaren Herrn, sich zu erheben. Johannes Rau ist's, er ergreift das Wort zum Dank, konstatiert ("Fernsehen und Literatur müssen keine Gegner sein"), resümiert ("aus manchem Wohnzimmer ist ein richtiger Salong geworden").
Literatur
Ein Staat nimmt Abschied
Marcel Reich-Ranicki trug am Freitag in Berlin das "Literarische Quartett" zu Grabe
Nach 13 Jahren und 77 Sendungen wurde ihm schrecklich langweilig: Marcel Reich-Ranicki trug am Freitag in Berlin das "Literarische Quartett" zu Grabe - im Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräsidenten. der Standard war dabei. Von Cornelia Niedermeier aus Berlin
Wenn Riesen sterben, trauern die Gartenzwerge. Wie sehr sie das tun, ist Tage später in der Zeitung nachzumessen. Am Freitag galt es in Berlin einen Halbwüchsigen zu Grabe zu tragen. Geboren und getauft am 25. März des Jahres 1988. Und die Trauer schwoll, sie überflutete Seite um Seite des deutschen Feuilletons. Besonders aber trauerte der deutsche Staat. Weshalb kein anderer als der sonst äußerst zurückgezogen lebende Herr Bundespräsident, er heißt Johannes Rau, zur Bestattung in seinen Amtssitz bat, auf Schloss Bellevue. Und siehe, es war zum Heulen schön.
Himmlische Klänge erklangen dort, wo die drei vertrauten, quadratischen Ledersessel huldigend den schwarzen Zweisitzer umstanden. Dort würde in wenigen Augenblicken ER Platz nehmen. Der Mann, der einst in Frankfurt am Main zwei Herren des ZDF das Konzept vortrug des
Literarischen Quartetts
- voilà, jetzt hat das Kind seinen Namen - fertig samt Titelmelodie (Beethovens Rasumowsky-Quartett op. 59, Nr. 3) und Schlusssatz ("Der Vorhang zu und . . .") zum Mitsprechen (vom Kommunisten Brecht,
Der gute Mensch von Sezuan
).
Der Mann, der nun, des Streitens müde, den Daumen, wie so oft, nach unten senkte und befand, es sei genug. Das Kind möge sterben. ER habe, seines Alters, immerhin 81 Jahre, ungeachtet, ein neues gezeugt. Auch jenes schon fertig samt Namen:
Reich Ranicki Solo - polemische Anmerkungen
. Ein Wassermann (Geburtsdatum 5. 2. 2002, 22.15 Uhr, dann neunmal jährlich für eine halbe Stunde).
Vom Sofathron herab
Beethoven und Start: zum letzten Mal 75 Minuten. Richtig eingespielt sind nur die zwei, ER, der Primsprecher, und Hellmuth Karasek, alle 77 Sendungen ein treuer Träger seines Parts, 400 Bücher lang, vor mindestens jeweils 500.000 Sehern, was 200 Millionen potenzielle Buchkäufe ergibt, wie der Intendant des Senders, Dieter Stolte, später vorrechnen wird, der vielen gelangweilt gesenkten Daumen uneingedenk. Laaangweilige Bücher. Wer kauft die?
Eine "Papierverschwendung" wird Iris Radisch bald differenziert urteilen, über das "völlig unerhebliche" Buch einer Frau, einer Österreicherin. Margit Schreiner, oder Martin? ER wird das kurz verwechseln. Nein, eine Frau. Er wird sie heute loben: "Ich finde diese Autorin hochbeachtlich." Na also. Überhaupt die Frauen, überhaupt die Österreicherinnen: Nie ausfüllen konnte Iris Radisch den ihr zugedachten Part ihrer Vorgängerin, Sigrid Löffler, die SEINEN Herrenhumor nur nicht zu schätzen verstand. Und die andere, die Autorin, deren
Lust
gleich in der zweiten Sendung das junge Kind zu morden drohte: Die Katholiken im Fernsehrat mochten solche Literatur wenig.
Heute: Lob und Schelte für Durs Grünbein,
Das erste Jahr
. ER zeigt sich mit Letzterer "hundertprozentig einverstanden, aber - ich finde es", das Buch, "fa-bel-haft". Obwohl: "Tagebuch ist überhaupt keine literarische Form. Tagebuch ist ein großer Dreck." Sagt auch Musil, "den ich nicht gerade verehre". Nicht gerade verehrt ER heute selbst Thomas Mann, als Tagebuchschreiber: "Dreck."
Bleibt nur mehr einer. Der Mann aus Frankfurt. Kein anderer als er ist SEINER letzten Besprechung wert. Des
Literarischen Quartetts
letztes Buch:
Die Leiden des jungen Werther
.
Finale Furioso: "In der Mitte wird der Werther langweilig. Und da hat der Goethe gemerkt, das geht so nicht weiter, da laufen mir die Leser weg. Und da ist der Goethe auf die geniale Idee gekommen: Perspektivenwechsel. Und plötzlich ist der Roman wieder fa-bel-haft." Fazit: "Ein bahnbrechender deutscher Roman. So, das wär's." Der Vorhang fällt. Das Kind ist tot. Die Gartenzwerge trauern.
(DER STANDARD, Printausgabe vom 17.12.2001)