Weniger als 100 Menschen auf der Erde sprechen die Sprache der Chickasaw-Indianer, eines Stammes, der heute im Süden des Bundesstaates Oklahoma zuhause ist. Sie besteht aus vielen harten Konsonanten und tiefen, lang gezogenen Selbstlauten, aus Wörtern wie z.B. takolo lakna okchi. Kein einziger fließend Chickasaw sprechender Mensch ist unter 55. In 100 Jahren wird niemand mehr diese Sprache sprechen.Mindestens 100 Leute derzeit, vielleicht auch mehr, sprechen Klingonisch, die Sprache von Außerirdischen aus einer Fernsehserie in den 60er-Jahren. Der Dialekt hat viele nicht menschlich klingende Laute - ghobchuq loDnI'pu'! - und eine vorhersehbare, schlichte Grammatik. Vergangenes Jahr wurde "Hamlet" von Simon & Schuster ins Klingonische übersetzt. Bald wird eine noch seltsamere, noch ältere Sprache überall zu vernehmen sein, eine sanfte, lyrisch klingende Sprache mit alten Wurzeln und einem sagenhaften Hollywoodbudget. Cate Blanchett und Liv Tyler werden sie sprechen. Sie wird aus den Playstations tönen und in Spielzeugringen eingraviert werden. Bald werden Sie, falls Ihnen Filme auch nur irgendetwas bedeuten, die Sprache der Elben vernehmen. 1915 begann John Ronald Reuel Tolkien, ein 23-jähriger Oxford-Absolvent, an einer Kunstsprache zu arbeiten, was für ihn ein angenehmer Zeitvertreib war. Als Grundlage nahm er Finnisch und die Sprache nannte er Quenya. Bald erfand er ein Volk - die Elben -, das diese Sprache sprechen sollte, ihre Geschichte, ein Land und eine Welt, in der sie es sprechen konnten, Mittelerde. Um es kurz zu machen: Die Geschichte wurde "Der Herr der Ringe" - wie mittlerweile jeder weiß, das Basiswerk der Fantasy-Literatur, mit Schwertern und Zauberern, das jetzt auch zu einem Filmspektakel der Sonderklasse wurde. In Kürze werden die Zauberer, Orks und Herren der Finsternis überall sein. Genauso wie die getreuen Tolkien-Anhänger, die bereits jahrelang eifrigst Quenya (und die anderen Elbensprachen) gelernt haben. Man wird sie vielleicht nicht gleich direkt erkennen. "Tolkien-Fans hatten nie wirklich eine Chance, sich zu outen", erklärt Marcus Smith, Linguist an der University of California Los Angeles und mit Quenya vertraut. "Die Medien werden sich eine Zeit lang für uns interessieren. Und wenn der Film wieder in der Versenkung verschwindet, landen wir auch wieder dort, wo wir vorher waren." Soll heißen weit verbreitet, bestens organisiert und mit Leidenschaft und sehr, sehr ernsthaft bei der Sache. Die Linguisten Tolkiens veröffentlichen wissenschaftliche Magazine, Wörterbücher und Bände über Quellenangaben (die übrigens oft sehr widersprüchlich sind). Sie stiften Stipendien und gründen Gesellschaften und Schulen. Actionhelden gehören nicht zu ihrem Universum. Noch nicht. Die Anhänger dieser wissenschaftlichen Disziplin sind in der ganzen Welt zu finden. Ihr Interesse gilt nicht nur den Elbensprachen (von denen Quenya und Sidarin die bekanntesten sind), sondern auch jenen der Zwerge, der Menschen und der sprechenden Bäume. Die aussterbenden Laute der Chickasaw gehören nicht dazu, aber es erscheint logisch, wenn jemand wie Marcus Smith auch diese Sprache studiert. Seine Tolkien-Studien, so erzählt Marcus Smith, hätten ihm zu dieser Laufbahn als Linguist verholfen und zu diesem Appartement. "Die meisten sprechen nicht gern in aller Öffentlichkeit darüber. Es ist vielleicht ein bisschen abartig", meint er, "aber ich stehe relativ offen dazu." Marcus verbrachte als Kind vier Jahre in Spanien und begann, Spanisch zu lernen. In der Highschool in Palmdale, am Rand der Mojave-Wüste, beschäftige er sich mit Deutsch und Mittelenglisch und älterer, seltener Prosa. Er las die 1137 Seiten des Herrn der Ringe inklusive des Anhangs, in dem die Grammatik und die Geschichte der Elben erläutert wurden, die so wunderbare Dinge sagten wie: "Elen sila himmenn omentielvo." ("Ein Stern scheint auf die Stunde, da wir uns getroffen haben.") Er fing an, die Gedichte in dem Buch zu übersetzen. Er begann auch, seine eigene Sprache zu entwerfen, wobei er sich besonders mit der Funktionsweise der Pronomina auseinander setzte oder damit, wie Worte den Besitz eines anderen anzeigen können. Genau wie John Ronald Reuel. Er strebt ein Doktorat in Linguistik an. Genau wie Tolkien. Aber anders als sein verstorbenes Vorbild hat Marcus vor, Sprachen vor dem Aussterben zu bewahren, anstatt die Zukunft von künstlich gemachten sicherzustellen. Ich weiß, dass ich kein ganzes Gespräch in Elbisch führen kann", sagt Marcus. "Ich glaube, niemand kann das. Ich habe Leute getroffen, die von sich behaupteten, dass sie fließend Elbisch sprechen. Nach ein paar Minuten habe ich gemerkt, dass sie einfach nichts können." Das Befassen mit "Elbisch" ist eine akademische Angelegenheit, eine sich ständig fortspinnende Diskussion auf Papier und per E-mail. Da Tolkien ganze Bände mit widersprüchlichen Informationen hinterlassen hat, von denen ein Großteil noch immer nicht veröffentlicht ist, "wird heftig gestritten", so Marcus. Warum enden Possessivwörter bei Tolkien auf einmal mit "m" und nicht auf "-av", wie er es ursprünglich festgelegt hatte? "Manchmal", stellt Marcus, der keine Lust hat, darüber zu streiten, schulterzuckend fest, "hat er Dinge einfach geändert." Das Leben eines Linguisten, besonders wenn er in der Nähe Hollywoods lebt, kann manchmal, wenn auch nicht allzu oft, richtig glamourös sein. Die frühere UCLA-Professorin Victoria Fromkin hat die Sprache von Chaka entworfen, den haarigen Affen in "Land of the Lost". Und Mark Pearson, heute Lektor an der Universität, hat eine Außerirdischen-Sprache für "Dark Skies" kreiert, einer "Akte X"-Kopie auf NBC. Aber Aufträge wie diese kriegt man nur einmal im Leben. "Es gibt nicht einmal genug Nachfrage, um auch nur einen Linguisten eine Vollzeitbeschäftigung als Berater in Hollywood zu sichern", sagt Pearson. In den meisten Filmen sprechen Aliens einfach irgendeinen Kauderwelsch, und die meisten Elfen können Englisch. Aber wo es Hollywood an Fantasie fehlt, machen sich Smith, Pearson und Konsorten ihren eigenen Spaß und kramen in dem, was sie "konstruierte Sprachen" nennen. Es existieren Hunderte von diesen seltsamen Kunstsprachen mit allem Drum und Dran wie Syntax und Grammatik und einer Reihe ernsthafter Leute, die dahinter stehen. Smith hat bereits einige entwickelt, ebenso wie Pearson, der sich sein ganzes Leben schon damit beschäftigt. "Man kann sich keine Sprache vorstellen, die Englisch unähnlicher ist", erzählt er. "Möchten Sie etwas davon hören?" O.K. "Chokema", sagt er. "Schlavanka!" Es ist kein Zufall, dass die großen Schlachten im Herrn der Ringe das Ende eines magischen Zeitalters beschreiben, das letzte Keuchen der Elben und Zauberer und dunklen Herrscher und Ringe, die einen unsichtbar machen. Das Buch erzählt vom Herannahen der Herrschaft der Menschen. Die Elben nehmen ihre Sprache und folgen ihren Vorfahren in das Unsterbliche Land. Die heute populärste Kunstsprache der Welt, Klingonisch, basiert auf dem nordamerikanischen Indianerdialekt der Mutsun. Der letzte, der diese Sprache beherrschte, starb 1930. Irgendwie passt es sehr gut, dass mir derselbe Mensch, der das bald höchst populäre Elbisch studierte, auch erzählt, dass nur Navajo als einzige Sprache der amerikanischen Ureinwohner die nächsten 100 Jahre überleben wird. "Wir arbeiten daran, die Sprachen aufzuzeichnen", sagt Marcus Smith, der Quenya und Chickasaw beherrscht, "bevor sie für immer verschwinden." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16. 12. 2001)