Literatur
Berichte von KZ-Überlebenden als unerschlossene Quelle
Deutscher Germanist fordert Aufarbeitung der "gewaltigen" Menge an Literatur
Gießen - Die von Überlebenden der Konzentrationslager
verfassten Darstellungen sind nach Angaben des Gießener Germanisten
Prof. Erwin Leibfried noch kaum literaturwissenschaftlich
aufgearbeitet worden. "Es gibt da eine echte Forschungslücke -
historisch hat man natürlich untersucht, was mit den Juden passiert
ist, aber nicht literaturwissenschaftlich", sagte Leibfried. Der deutsche Wissenschaftler ist auch Vorsitzender der
Internationalen Gesellschaft zur Erforschung der
Literatur des Holocaust
, die am vergangenen Wochenende in Gießen gegründet wurde.
Texte zerfallen
"Die Menge an Literatur ist gewaltig", sagte Leibfried. Mehrere
tausend Tagebücher, Memoiren und Erfahrungsberichte beschäftigten
sich mit dem Alltag in den Lagern. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg
seien zahlreiche Berichte verfasst worden, in denen die Betroffenen
ihre Erlebnisse aufschrieben. "Danach war 40 Jahre lang Pause, die
man wohl psychologisch damit erklären kann, dass sie nicht über die
schrecklichen Erlebnisse sprechen wollten", sagte der Forscher. Seit
Anfang der 90er Jahre gebe es wieder einen "neuen Boom" in der
Holocaust-Literatur. Große Teile des Schriftguts seien allerdings
bedroht, weil das Papier allmählich zerfalle.
Oftmals "schlichte" Notizen
"Wenn die Sachen jetzt nicht bearbeitet werden, sind sie für immer
verloren", meinte der Germanist. Auch gebe es immer weniger
Zeitzeugen, die den Forschern bei offenen Fragen helfen könnten.
Warum die Holocaust-Literatur auch mehr als 50 Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs von der Forschung kaum aufgearbeitet worden
ist, versteht auch Leibfried nicht. "Ich glaube aber nicht, dass das
Thema verdrängt wurde, es gab schließlich viel historische
Forschung", meinte der Forscher. Das literarische Niveau der Texte
könne vielleicht eine Rolle spielen. Weil die Betroffenen oft "aus
ihrer Aufregung heraus" schrieben, seien einige Notizen sehr
schlicht. Andere Autoren dagegen, wie zum Beispiel Paul Celan mit
seiner "Todesfuge", hätten schon wieder ein zu hohes Niveau.
Forschungsthema
Bisher gibt es nach Darstellung von Leibfried weder Untersuchungen
über den Aufbau der Berichte der Überlebenden noch über stilistische
Aspekte. Genau mit diesen Fragen beschäftigt sich die "Arbeitsstelle
Holocaust", die vor zwei Jahren unter Leibfrieds Leitung an der
Gießener Universität gegründet wurde. "Die neue Gesellschaft soll das
Sprachrohr unserer Arbeitsstelle werden", sagte der Wissenschaftler. (APA/dpa)