Washington/Wien - Eilig hat es die Regierung Bush bei ihrem Projekt eines Raketenabwehrschildes ("Missile Defense") immer schon gehabt. Nach der Stornierung des ABM-Vertrages geht es jetzt freilich Schlag auf Schlag: Diese Woche weilt US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Moskau, um im Gespräch mit seinem Konterpart Sergej Iwanow letzte Bedenken der Russen aus dem Weg zu kehren.Schon in der vergangenen Woche sind die Amerikaner von Worten zu Taten geschritten: Vom kalifornischen Luftwaffenstützpunkt Vandenberg aus wurde der Prototyp einer neuen Abfangrakete gestartet (die dann bald außer Kontrolle geriet und gesprengt werden musste). "Theatre Missile Defense" Zugleich haben die Amerikaner budgetäre Umschichtungen eingeleitet. Zur Zerstörung von Kurz- und Mittelstreckenraketen konzipierte, vor allem von Kriegsschiffen aus operierende Abwehrsysteme, die unter dem Überbegriff der "Theatre Missile Defense" (TMD) zusammengefasst werden, werden zugunsten der MD zurückgestutzt. Für viele US-Militärs ist die Bedeutung des Unterscheidung zwischen TMD und MD ohnehin längst im Schwinden begriffen. Sie sehen die verschiedenen Stufen der Raketenabwehr lieber als "Kontinuum von Möglichkeiten" denn als klar voneinander abgegrenzte Systeme. Mit ihren jüngsten Aktionen, die alle in Richtung einer Forcierung und Beschleunigung von MD hindeuten, hatdie Regierung Bush eine Unklarheit, die nach dem 11. September aufgetaucht war, restlos beseitigt: Ob nämlich die Terrorakte das Projekt MD stärken oder schwächen würden. Die Kritik, dass die wahre Bedrohung für die US-Sicherheit nach den Erfahrungen des 11. September nicht von Interkontinentalraketen kommt, hat psychologisch überhaupt nicht verfangen. Sicherheitspolitischer "Rabatt" MD-Verfechter argumentieren, dass es sicherheitspolitisch auch nach dem 11. September keinen "Rabatt" geben darf. Schutzmaßnahmen gegen Terrorakte müssen gleich wichtig genommen werden wie solche gegen Raketenangriffe. Die unheimlich starke Rückkehr des Raketenabwehrschildes - entsprechende Pläne gab es erstmals in den 50ern - unter der Regierung Bush geht auf mehrere Faktoren zurück. Sie ist zum einen mehr denn je überzeugt, dass Interkontinentalraketen immer noch eine größere Gefahr darstellen als der ominöseAtombombenkoffer, der heimlich ins Land geschmuggelt wird. "Wenige Dritt-Welt- Diktatoren", schreibt der konservative Sicherheitsdenker und Rumsfeld-Berater Peter Rodman, "veranstalten Militärparaden, bei denen Männer mit schwarzen Koffern aufmarschieren. Dagegen protzen viele von ihnen triumphierend mit ihren Raketen." Auch irrational So kommt denn die Furcht, dass "Schurkenstaaten" wie der Irak oder Nordkorea, das 1999 eine Taepo-Dong 1-Rakete über Japan hinweg Richtung USA schoß, aus dem Blauen heraus US-Staatsgebiet attackieren könnten, dem Raketenabwehrschild zugute. Während die Philosophie der Abschreckung mit ihrer Androhung einer "wechselseitig garantierten Vernichtung" einer - sinistren - Logik gehorchte und von einem rational agierenden Gegner, der UdSSR, ausging, traut man "Schurkenstaaten" auch irrationale Angriffsakte zu, von denen sie sich auch durch dieDrohung mit einem nuklearen Gegenschlag nicht abhalten lassen könnten - etwa weil sie eine solche Drohung einfach nicht für glaubwürdig halten. Bush betont seit langem, dass in der Verteidigungspolitik Offensivmaßnahmen mit neuen Defensivmaßnahmen gekoppelt werden müssen, um die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Neuen Auftrieb haben die MD-Pläne auch durch das seit dem 11. September massiv gesteigerte Gefühl erhalten, auf dem eigenen Terrain verwundbar zu sein. Und viele Militärs fühlen sich auch durch die technologischen Fortschritte der letzten Jahre ermutigt. Dass der unter Ronald Reagan entwickelte Raketenschild an technologischen Hemmnissen scheiterte, heißt für sie noch lange nicht, dass man sich endgültig geschlagen geben müsste. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.12.2001)