Drei Frauen, ein Mann: Als stilles Requiem für vier Stimmen inszenierte der Regisseur Falk Richter am Zürcher Schauspielhaus in Koproduktion mit der Schaubühne Berlin den letzten, posthum erschienenen Text der englischen Dramatikerin Sarah Kane, "4.48 Psychose".

Cornelia Niedermeier

Zürich - Langsam zogen sich die Körper zurück aus ihren Texten. Am Schluss stand die Sprache, reine Stimmen, keinem Leib mehr zuordenbar.

Berühmt - man könnte auch sagen: berüchtigt - war die englische Dramatikerin Sarah Kane für ihre frühen Stücke. In Zerbombt, Phädras Liebe, Gesäubert explodierten Aggression und Machtwille in Szenarien blutigster Verstümmelung. Fragile Utopien von Glück prallten frontal auf zerstörerische Kräfte einer lebensfeindlichen Realität, dem Untergang geweiht.

Nach Gesäubert schien Leben auf dem Kaneschen Planeten endgültig unmöglich. Und tatsächlich hatten sich die Leiber, die Handlung, zurückgezogen. Gier, ihr vierter Dramentext, wird getragen von einer eigentümlichen Stille, der Ruhe nach dem Sturm: übrig blieben vier Stimmen, A, B, C, M, gewissermaßen schwebend in den Raum beziehungsweise auf das Papier gesetzt, losgelöst von Geschlecht und Identität. Leiseste Kammermusik, ein verbales Streichquartett der unerfüllbaren Sehnsucht nach Liebe und des Scheiterns an ihr. Jede Theaterinszenierung sieht sich vor das Problem gestellt, eine wesentliche Qualität des Textes, seine Entkörperlichung, seine Loslösung von leiblicher Vereinzelung, durch das Auftreten von Schauspielern zu zerstören. Kanes späte Stücke fordern abstrakte szenische Lösungen, Lösungen, wie auch Samuel Beckett sie suchte, als er in der Inszenierung seiner identitätsbefreiten Texte allein sprechende Münder auf der Bühne zu sehen wünschte, die Körper im Dunkel verborgen.

Denn auch in 4.48 Psychose, ihrem letzten, posthum veröffentlichten Text (Übertragung ins Deutsche von Durs Grünbein), fehlt jede Zuordnung der Worte. Die Sätze, Zeilen, Diagnosen, Befunde umkreisen einen letzten Zustand der Hoffnungslosigkeit, eines Innehaltens vor dem Tod. Selbstmordfantasien, Gespräche zwischen Psychiater und Patientin, zuletzt Abschied, "bitte öffnet den Vorhang". Eine lyrische Todesfuge für unsichtbares Theater. Wie in Szene setzen?

Falk Richter, dessen Inszenierung von Jon Fosses Die Nacht singt ihre Lieder soeben für den Nestroy-Preis nominiert wurde, holte die Körper zurück auf die Bühne. Vier junge Menschen, drei Frauen, ein Mann, in Alltagskleidung. Dennoch erhält er den Text am Schweben. Was der außerordentlichen Musikalität der Inszenierung zu danken ist. Falk Richter und seine Schauspieler lauschen genauestens auf den Atem des Textes. Eine "Solosymphonie", so Kane, verteilt auf vier Stimmen. Die vage Unbestimmtheit der abgedunkelten Szene von Katrin Hoffmann - aus dem Schwarz des Hintergrunds ragt das gleichfalls schwarz gekachelte Bühnengeviert, auf dem quadratische, drehbare Alurahmen definitionslose Raumquadrate abteilen, in wel- chen schlichte Ledersessel stehen - und der weitgehen- de Verzicht auf Gestik ge- ben dem Stück seine Ortlosigkeit zurück: Die Konzentration gilt allein Kanes klarer Sprache.

Bibiana Beglau, Sylvana Krappatsch, Jule Böwe, drei intensivste Darstellerinnen (deren Namen man sich alle merken wird müssen) markieren drei Leben mit minimalen darstellerischen Akzenten: Aggression und Erstarrung, fahrige Nervosität, Depression. Kontrapunktiert vom dunklen Timbre Kay Bartholomäus Schulzes. Trauer-Musik, dem Kontext enthoben, für vier fantastische Schauspieler. Am Ende war Stille. Lange. Bevor das Publikum sich im Applaus erlöste.

(DER STANDARD, PRINT, 21.12.2001)