Im Grunde brauchte ich gar nicht zu weinen", bemerkte Marlene Dietrich über ihre Kindheit, "die Angst und die Kälte reichten vollauf. Ich kannte die geschlossenen Läden aller Geschäfte, alle vorspringenden Steine, über die ich mit geschlossenen oder gekreuzten Beinen springen oder rutschen konnte. Die jüngeren von uns strickten Pulswärmer, die älteren Pullover."

Und wohin wünschte sie sich, während ihre Finger an Pulswärmern und Pullovern ihr Glück versuchten? Wusste sie schon von Geisterschiffen oder kannte sie Seefahrergeschichten, kam ihr die Januarausgabe von Blackwoods Magazin in die Hände? "Yachting and Cruising for Amateurs" gehörte vermutlich nicht zu ihren ersten Büchern. Und sie kannte nicht die Seelsorger neuenglischer Landgemeinden oder die Hauptorte der abgelegeneren britischen Inseln, auch nicht, dass man sich selbst auf eine Insel abkommandieren und den Weihnachtsabend ungestört hinter den heruntergelassenen Rollen der Vergnügungshallen feiern konnte. Und was bedeutete Ungestörtheit in frühen Lebensphasen? Glück, Gottverlassenheit oder ihre unvermuteten Ergebnisse?

An schlanken Knöcheln und schmalen Handgelenken hatte sie noch kein größeres Interesse. An Vätern noch weniger: "Die meisten meiner Klassenkameradinnen hatten keine mehr. Niemand schien darunter zu leiden. Verschwanden sie nach kurzen Besuchen. so quollen die Aschenbecher über von Zigarettenstummeln." Wichtiger: Nach dem Weltkrieg das erste Corned Beef - ein früher Gottesbeweis.

"Ich betete schon seit langem und täglich zu Gott, aber die Überzeugung, dass er wenig Interesse an diesen Gebeten und ihren Details hatte, wuchs rasch." - Diese Überzeugung nahm auch bei mir früh zu, obwohl Gegenbeweise über unseren stillen, kaum wahrgenommenen Horizont tauchten: Goldene Knöpfe und Samtkrägen an den schweren Uniformwesten des Großvaters, dünne Schokoladeschnitten in den Pausenbroten und nach Weihnachten "Grüße vom lieben Christkind" in den ersten Schulheften. Noch keine neuen Götter oder Göttinnen, noch keine Filme. Das wächserne Jesuskind, dem man nach jeder guten Tat einen neuen Strohhalm in die Krippe legen durfte, aber keine Marlene Dietrich, kein Charlie Chaplin, kein Orson Welles. Die kamen erst auf, als an Eis und Kälte kein Mangel mehr war. Sie kamen aber auch nicht zu spät, sie wussten ihre Stichworte.

"Verdammt", war eines der ersten Stichworte für Marlene in Bernhard Shaws Stück Eltern und Kinder, sie war so fasziniert, dass sie ihren einzigen Satz vergaß. Ich vergaß und vergesse vieles, aber nicht die ersten einfachen Sätze, das warme, helle Klassenzimmer und den Stern im ersten Heft. Einiges hielt nicht, aber er hielt, was er damals versprach. Bei Frostgraden und dem Frösteln davor. Selbst, als es eiskalt wurde. Aber da war Marlene Dietrich schon halbwegs in Sicht.
Die nächste "Unglaubwürdige Reise" wird nächsten Freitag angetreten. Die bisherigen Einträge finden Sie unter: derStandard.at/Kultur.

(DER STANDARD, PRINT, 21.12.2001)